Grelles Blitzlichtgewitter, eine beachtliche Menge an Fotografen, zahlreiche Regielautsprecher, wertvolle Roben, Vintagerequisiten, Antiquitäten jeglicher Art und schließlich ein schwarzer Regie- stuhl mit der Aufschrift »DIRECTOR«. All dies an einem grauen Septembermorgen in der Dunkel- heit eines vermeintlichen Filmstudios in einem Außenbezirk von Mailand. Im Hintergrund wird die nostalgische Atmosphäre durch Ennio Morricones »Metti una sera a cena« akzentuiert. In der Luft schwebt ein Hauch von Dramaturgie und großem Kino. Als ich zu meinem Sitzplatz begleitet werde, erwartet mich dort ein beigefarbiges Skript mit der Aufschrift »Lights, Camera, Action! An Antonio Marras – Spring Summer 2024 Movie«. In der Tat möchte man glauben, dass ich mich in einer Thea- tervorstellung oder gar in einem Kinosaal befinde. In Wahrheit bin ich Gast der Antonio-Marras-Mo- denschau auf der Mailänder Fashion Week. Ich gebe zu, dass ich bereits vor Beginn der Show beein- druckt und überwältigt von der Bühnenbildgestaltung und der geheimnisvollen Aura bin. Nach einer anfänglichen Gefühlsüberflutung realisiere ich, dass die aufgebaute Filmkulisse zeitgleich als Bühne und Laufsteg dienen soll. Somit wird der Backstagebereich zum vordergründigen Schauplatz. Alles fühlt sich noch übermäßig surreal an. Ich frage mich: »Ich bin doch nicht etwa in die Dreharbeiten eines Filmsets geplatzt?« Doch wenig später wird es leise und die Show beginnt mit einer schauspielerischen Narration, gefolgt von der Präsentation der neuen Modekollektion. Antonio Marras erzählt durch seine Mode Geschichten. Geschichten, die berühren und eine große künstlerische Kraft beinhalten. In seinem Fashion-Show-Skript erfahre ich, dass der in Sardinien geborene und aufgewachsene Modeschöpfer seine Kindheit und Jugend in Kinos auf Alghero verbrachte. Das Kino bezeichnet er indes als Ort der kulturellen Fortbildung und als Schule seiner eigenen kreativen Entwicklung:"Cinema is an indispensable companion in life. What I have become is also the result of what I have seen in the cinema".

Weiters beschreibt der Designer die Erfahrung seiner Kinobesuche als magisch-inspirierende Ereignisse: "When the lights dim and the music starts with the opening credits, it’s as if we are boarding a spaceship that takes us elsewhere, and nothing else matters".

Jene Emotion spiegelt sich in meinen Augen wider, als ich die schwebenden Organzastoffe und die tür- kisfarbene Schminke - in Anlehnung an Hollywooddiva Elizabeth Taylor – auf dem Runway erblicke. Der Modeschöpfer sieht in der bis heute gefeierten Stilikone Liz Taylor mehr als »bloß eine famose Hollywood- ikone«. Für ihn eröffnete sich in seinen Kindheitstagen – dank der Diva – eine neue Welt und eine endlose Fantasie. Als der US-amerikanische Regisseur und Drehbuchautor Joseph Losey im Jahr 1967 mit seiner Filmcrew auf Sardinien landete, um auf den Klippen von Capo Caccia (Alghero) seinen 1968 erscheinenden Film »BOOM« mit Elizabeth Taylor und Richard Burton zu drehen, war der damals sechsjährige Antonio hin und weg. Die Hollywoodaura umschlang ihn unerwartet und direkt; er war gedanklich von jener wunderbaren Träumerei gefesselt und flüchtete in ein Meer von hollywoodianischen Emotionen. Marras kann sich noch sehr gut an den Starmythos in seinem kleinen Heimatort erinnern. Vor allem erinnert er sich an die Gerüchte um den edlen Bulgari-Schmuck der Diva, an die prachtvollen Couture-Kleider des Atelier Tiziani, die mithilfe eines jungen Karl Lagerfeld realisiert wurden, an die kolossale, weiße Villa an der Spitze des Berges, an die über- dimensionale Yacht, an die Anzahl des Personals und an die glamourösen Veranstaltungen rund um den Film und dessen Dreharbeiten. Plötzlich war Hollywood ganz nah – plötzlich spielte sich jene Hollywoodsensation vor der Haustür des jungen, träumenden Antonio Marras ab. Jene Filmlocation rekonstruiert der Designer im Filmstudio seiner Modenschau, 56 Jahre später.

 

 ... and action! Anlässlich der theatralischen aus dem Archiv von Antonio Marras; dazu ein verzierender Blumenkopfschmuck von Evelyne Aymon und ein schwarzes Vintage-Spitzen-Collier. © Judith Bradl

Nostalgische Blumenmotive, romantische Stickereien, und ein mediterraner Strohhut. Diese Elemente spiegeln das Stil- Universum von Antonio Marras womöglich am besten wider. © Alessandro Lucioni

 

Bereits in den ersten Minuten seiner filmischen Modeperformance erlebe ich ein überwältigendes Gefühl; ein Gefühl der geheimnisvollen Magie; ein Gefühl der surrealen Theatralik; ein Gefühl der schauspielerischen Meisterhaftigkeit. Schließlich, als Marisa Schiaparelli Berenson, die Diva der Inszenierung und Nichte von Elsa Schiaparelli, vor mir über den Laufsteg schreitet und im Hintergrund Piero Umilianis »Crepuscolo sul mare« ertönt, überfällt mich eine emotionale Welle, bei der ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Wir sind es in Kinos gewohnt, durch das raffinierte, filmische Zusammenspiel von Wort, Handlung und Bild berührt zu werden. Denn, wie Filme- macher Jean-Luc Godard meint: "Cinema is something between art and life. Unlike painting and literature, the cinema both gives to life and takes from it. Cinema is neither art, nor a technique, it is a mystery".

Marras gelingt es, jene Filmkunst in Modekunst zu übersetzten. Er macht dies mit seinen kaftanartigen Couture-Kreationen aus Seide, den bestickten Tailleurs, der Verwendung von Chantilly-Spitze und Plissee im Austausch mit Pailletten, den dekorativen Rosenbouquets, dreidimensionaler Strickware und einer großen Portion an farblich-materieller Improvisation. Nach jenem mailändischen Marras Erlebnis würde ich behaupten, dass das Phänomen der Mode – genauso wie die Welt des Kinos – auf den ersten Blick lebensnah und realitätsgebunden erscheinen mag. Bei genauerem Hinsehen und im Falle einer kreativen Gesamtkonzipierung verwandelt sich eine Mode- kollektion in ein mysteriöses Skript, das sich vom Leben zwar inspiriert, dieses jedoch auseinandernimmt, zerlegt und neu erfindet. Im nachgebildeten Drehbuch von Antonio Marras mit dem Titel »Lights, Camera, Action« findet sich dazu ein überzeugendes Zitat von Federico Fellini: »I’m just a storyteller and cinema happens to be my medium. I like it because it recreates life in movement, enlarges it, enhances it, distills it. For me, it’s far closer to the miraculous creation of life than, say, a painting or music or even literature. It’s not just an art form; it’s actually a new form of life, with its own rythms, perspectives and transparencies.«

In Anlehnung an das filmische Stilmittel bringt Marras in der Rolle eines Mode- erzählers ein emotional-erhellendes Licht in das monotone Modegeschehen, das den authentischen Zugang zur Kreativität nur noch mit wenigen Ausnahmen am Leben er- hält. Marras zählt ohne Zweifel zu diesen Ausnahmen, die der Modeschöpfung durch einen genuin-verspielten Zugang einen höheren Stellenwert verleihen. Seine Kollek- tion Frühling/Sommer 2024 verzaubert durch eine dichterische Hingabe, die die ver- staubte Hollywoodromantik neu erfindet und dadurch den Duft von Glanz und Glorie modernisiert.

Der Beweis, dass Mode (noch) verzaubern kann; dass Mode magisch auf uns wirken kann; und zuletzt, dass Mode ganz großes Kino ist. Dabei sind wir nicht nur reine Zuseher, sondern Akteure und – wenn wir wollen – auch dessen Hauptprotagonisten. Beim Verlassen des Marras-Filmstudios bin ich mir so sicher wie noch nie: Mode soll – genauso wie das Kino – zum Träumen anregen und uns in fiktive Sphären transportieren.

 

Marras betrachtet diese Robe als Leinwand seiner Kreativität; die Hommage an Liz Taylor wird vor allem im kopftuchartigen Detail des Kleides sichtbar. Die Diva trug besonders gerne extravagante Kopfbedeckungen und vornehme Seidentücher. © Alessandro Lucioni

Die finale Krönung der Mailänder Schau: der Modeschöpfer Antonio Marras mit seiner Muse Marisa Berenson Schiaparelli, die in seiner filmisch-konzipierten Show, die Hollywood-Diva Elizabeth Taylor verkörpert und gekonnt nachahmt. © Alessandro Lucioni