PIERPAOLO PICCIOLI im Stil-Dialog mit VALENTINO GARAVANI

von Judith Bradl

Die Haute Couture Werke von Valentino sind unverwechselbare Meisterwerke hoher Schneiderkunst sowie zeitlose Schöpfungen eines großen Meisters der Couture.

Für jeden anderen Modeschöpfer wäre die Bezeichnung »Couture-Kaiser« sicherlich eine Übertreibung und vermutlich sogar unpassend. Überaus ideal und treffend scheint jenes Beiwort jedoch für Valentino Clemente Ludovico Garavani und dessen Couture-Kreationen, welche sich im wahrsten Sinne des Wortes wie ein roter Faden durch die Modegeschichte ziehen. Auf einer visuellen Reise durch das »rote« Universum von Valentino erfahre ich, dass der weltweit anerkannte und geschätzte Couturier bereits in seiner Jugend eine klare Vision hatte und stets von der Eleganz der Modewelt träumte. Fortlaufend beschreibt Garavani die Eleganz als Gleichgewicht aus Proportionen, Emotionen und Überraschungen. Valentino, so erfahre ich in zahlreichen Fachlektüren und anhand der prachtvollen Stofflichkeit der delikaten Vintage-Roben, war ein Anhänger der zarten, unaufdringlichen Opulenz. Zwei kontrastierende Begriffe, die auf Anhieb nicht verwandt sein mögen. So scheint die opulente Mode deutlich aufdringlicher als zurückhaltend zu sein.

Polaroid-Eindrücke der ersten ‚Valentino Vintage‘ Kampagne, 2022. © Valentino

Doch beginnen wir beim Ursprung: Valentino ist noch sehr jung, als er für seine Tante ein Kleid entwirft. Kurz daraufhin besucht er eine Kunstschule in Mailand und stellt fest, dass sein Herz für die Welt des Modedesigns schlägt. Mit nur 17 Jahren zieht es ihn nach Paris, wo er seine Ausbildung in den Ateliers von Jean Dessès und Guy Laroche erhält. Im Jahr 1960 kehrt er nach Italien zurück und gründet, aus leidenschaftlicher Überzeugung und mit der Unterstützung seines Vaters, ein Atelier in der angesagten Via Condotti, in Rom.

Als er den damaligen Architekturstudenten Giancarlo Giammetti kennenlernt, und sich dieser daraufhin um die Kommunikation und Vermarktung des Labels kümmert, steht dem Erfolg von Valentino nichts mehr im Wege. Gemeinsam gründen sie ein Imperium auf der Suche nach Schönheit, Harmonie und Anmut. Valentinos Kreationen sind vor allem durch die reine Weiblichkeit und eine Anti-Kitsch Philosophie gekennzeichnet. Über beinahe 50 Jahre Schaffenszeit ist Valentino niemals der Versuchung der Provokation oder der kurzlebigen Faszination der Trends verfallen. Stattdessen setzte er auf Nuancen einer langlebigen Vornehmheit. Der Begriff der »Innovation« war dem Maestro jedoch keinesfalls ein Fremdwort. Die Prêt-à-porter Schau der Herbst-Winter Kollektion 2005/6 in Paris schließt mit einem roten Abendkleid samt Schleppe und einer in Taillenhöhe angebrachten Schleife. Das legendäre Valentino-Rot, besser bekannt als »Rosso Valentino«, ist jedoch viel mehr als bloß ein sinnlich-kräftiger Rotton, der in die Geschichte des Modehauses einging. Die Faszination dafür hat seinen Ursprung im Opernhaus von Barcelona, wo der junge Couturier die verborgene Schönheit jener Farbe für sich entdeckte: »Bei den Aufführungen waren nur rote Kostüme auf der Bühne zu sehen; die Frauen auf den Balkonplätzen trugen rote Kleider und ragten über die Ränge wie Geranien über Balkongeländer [...]. Auch die Sessel und die Vorhänge waren allesamt rot. Ich wusste, dass es nach Schwarz und Weiß keine bessere Farbe gab.«

Rote Robe von der Valentino Herbst/Winter 1985/6 Haute Couture Kollektion, welche ich anlässlich des Valentino-Events ‚V CLUB‘, im legendären Mailänder Club, PLASTIC, tragen durfte (2022). © Judith Bradl

Und so kam es, dass Valentinos Kollektionen immer mindestens ein Kleidungsstück in dieser Farbe enthielten. Im Jahr 2014 wurde das ikonische Rot erneut zum Symbol für Prestige, Lebendigkeit und feminine Energie. In jenem Jahr begann für Valentino eine neue Ära. Der Maestro hatte sich schweren Herzens von der Modeszene verabschiedet, und ab nun waren seine beiden langjährigen Mitarbeiter, Maria Grazia Chiuri und Pierpaolo Piccioli, für die Kreativdirektion des Labels verantwortlich. In der Show mit dem Titel ‚NO SEASON‘ (2014, Shanghai) präsentiert das Designer-Duo eine monochrome Kollektion, bestehend aus tausenden Rotschattierungen und einem beeindruckenden Sortiment verschiedenster Stoffarten. Das legendäre Rot steht demnach durchaus in einem respektvollen und loyalen Dialog mit der Geschichte und dem faszinierenden Archiv des Hauses. Seit 2016, als Piccioli zum einzigen Valentino-Kreativdirektor ernannt wurde, spielt dieser gekonnt mit dem Stil-Erbe, dabei stets eine moderne und eigenständige Frauenfigur voraussetzend. Neben dem historischen Valentino-Rot, erfindet Piccioli den innovativen und mutigen Farbton Pink PP by Valentino«*. Der Pinkton als Zeichen, Code und Identität ist seit 2022 ein wahres Manifest. Die legendären Designcodes der Maison prägen die gesamte Kollektion, die stark mit der Tradition verwurzelt und dennoch zeitgemäß ist. In einem überraschend lockeren Gespräch, im Zuge der Präsentation der neuen Initiative »Valentino Vintage«**, betont Piccioli, wie er eine moderne Stilsprache anstrebt, jedoch genauso sehr die Vintage-Roben schätzt und diese eine enorm bedeutsame Quelle seiner künstlerischen Inspiration seien: »Von Anfang an bestand die wichtigste Aufgabe für das Erbe von Valentino darin, die Wahrnehmung, die Idee und die Essenz des Hauses zu verwirklichen, anstatt Teile des Archivs neu zu präsentieren. Es war ein kreativer Prozess, der den Modus Operandi des Couture-Ateliers zum Vorbild hatte. Mit anderen Worten: die menschliche Exzellenz, die sich in jedem einzelnen Detail widerspiegelt. Von den Modenschauen über die Kollaborationen bis hin zu den Geschäften.«

Im Gespräch mit Valentino-Kreativdirektor Pierpaolo Piccioli, beim ersten Valentino Vintage Pop-Up in der renommierten „Madame Pauline Vintage“ Boutique in Mailand (2022). © Judith Bradl

Piccioli ist, genauso wie Monsieur Valentino selbst, ein Anhänger der verträumten und zugleich sinnlichen Zeitlosigkeit. In seiner Jugend träumte er davon, Filmregisseur zu werden: 

»Ich habe das Kino immer schon geliebt [...]. Als ich jedoch die Mode und ihre erzählerische Kraft entdeckte, beschloss ich, Designer zu werden. Das war für mich die natürliche Weiterentwicklung eines Traums.«

Piccioli versteht die Haute Couture als Erweiterung der humanen Vorstellungskraft. Quasi als ein imaginärer Raum jenseits der Vernunft: »Die Couture ist eine Sphäre der Fantasie und Freiheit, des Einzigartigen und Außergewöhnlichen, in der das Handwerk kein fetischistisches Spiegelbild des Wertes ist, sondern ein Mittel und eine Methode, um Unwahrscheinlichkeiten zu erreichen, Wahrnehmungen zu hinterfragen und kühne neue Realitäten zu schaffen.«

In seinen Kollektionen, wie auch in der letzten Pariser Couture Show »LE CLUB COUTURE« (2023) wird der Stoff zum Farbspiel, Volumina beginnen zu schweben, Schnitte sind nicht mehr wahrnehmbar. Für Piccioli wird somit das Unglaubliche materiell, und die Fantasie real. Als Reaktion auf jene reale Couture-Fantasie frage ich mich jedoch, inwiefern derartig kontrastreiche Elemente und Werte, die zeitlose Eleganz und die innovative Trendhaftigkeit, je harmonieren können, ohne einander zu provozieren. Der Designer beseitigt jenen Zweifel in seiner Pariser Prêt-à-porter Show »BLACK TIE« (2023), in welcher er die Symbolik und Existenz der schwarzen Krawatte*** künstlerisch untersucht, und anhand dieser eine melodische Einigkeit ergründet; ganz im Sinne von Valentino Garavanis Auffassung der Schneiderkunst in Gestalt der vielfältigen Ausformungen der Schönheit. Jener Stil-Dialog zwischen Monsieur Valentino und Pierpaolo Piccioli zeugt von der Koexistenz der Pluralität und der Einheit von Geschichte, Gegenwart und Zukunft.

 „Let a girl dream!” Jenescremefarbene Tulle-Kleid, von Pierpaolo Piccioli’s Frühjahrs-Sommer Kollektion 2008, verleiht ohne Zweifel eine verträumtromantische Aura. Das Kleid ist, wie viele weitere Valentino-Schätze, in der auserwählten Vintage-Boutique Madame Pauline Vintage, in Mailand, zu bewundern (2023). © Judith Bradl

 

*Der kraftvolle Pinkton wurde in Zusammenarbeit mit dem Pantone Color Institute geschaffen und ist rechtlich geschützt. Die Monochromie bewirkt einerseits eine Reduzierung und andererseits eine ausgeprägte Hervorhebung der Individualität.
** Das innovative »Valentino Vintage« Projekt untersucht seit 2021 die Relevanz der bestehen-den Vintage-Teile der Valentino-Kundschaft. Die Idee dahinter ist es, die alten Kleidungsstücke in insgesamt sieben weltweiten Vintage-Boutiquen zusammenzuführen und diese respektive mit neuen Valentino-Kreationen einzutauschen. Infolgedessen werden die Vintage Kleider von Experten des Valentino-Archivs bewertet und zum Wiederverkauf in den Vintage-Stores bereitgestellt.
***Die Quelle jener Idee sei Picciolis 14-jährige Tochter Stella gewesen, als er beobachtete, wie diese im Laufe ihrer Kindheit in seinem Kleiderschrank spielte und gemeinsam mit ihren Freundinnen heimlich einen seiner Anzüge samt Krawatte anprobierte. Piccioli selbst trage kaum Anzug; er bevorzugt einfache und zwangslose Kleidung. In zahlreichen Instagram-Posts beschreibt er, wie ihn die Auswahl und Attitüde seiner Tochter inspirierte. Daraufhin widmete er die Kollektion dem vermeintlich maskulinen Symbol der Krawatte, welche in seinen Kreationen jedoch vielmehr von einer freiheitsorientierten Zukunft erzählt.
Abbildung ganz oben: Valentino Garavani im römischen Atelier, gemeinsam mit seinen Models und seinen Hunden, fotografiert von Lorenzo Agius, im Jahr 2007. © Valentino