René Frank dehnt mit CODA den kulinarischen Möglichkeitsraum.

Als Coda wird der angehängte, ausklingende Teil einer musikalischen Bedeutungseinheit bezeichnet. Diese kann entweder ein Phrasenteil sein oder eine ganze thematische Episode, die Charakterzüge des gesamten Werks aufgreift und zusammenfasst. Nicht jedes Musikstück kommt mit nur einer Coda aus. Selbst in der Popmusik existieren einige, die eine komplexere Struktur aufweisen. Hier fungiert die Coda vor dem eigentlichen Schlussteil und springt schließlich in die sogenannte Codetta.

Während in Menüfolgen, die man auf Sterneniveau kennt, das Dessert meist ein »Phrasenteil« am Schluss ist, ist das, was man als Gast bei René Frank und Küchenchefin Julia A. Leitner im Restaurant CODA in Berlin erlebt, eine ganze »Episode«, die bisher unentdeckte Charakterzüge des Gesamtwerks »Dessert Dining« aufgreift und zusammenfasst. Das Menü ist eine komplexe Komposition, die sie-ben anregende »Schlussteile« mit perfekt abgestimmten »Drinks« beinhaltet, um schließlich in ihrer Codetta in eine ausgewogene Balance zu münden.

Was im CODA auf den Teller kommt, hat mit der gängigen Vorstellung von Dessert nicht viel zu tun: AUBERGINE, RACLETTE WAFFEL, GEEISTE ROTE BEETE, CAVIAR POPSICLE, um nur einige Schlagworte aus dem Menü aufzuzählen. Im Gespräch mit René Frank bringt der weltweit bekannteste Patissier den Kern unmissverständlich auf den Punkt: »Wir müssen nicht Dessert sein. Das, was wir hier selbstbewusst als ‚Dessert Dining‘ servieren, würde woanders auch nicht als Dessert wahrgenommen werden. Man muss sich im CODA von dem, was man kennt, loslösen: den Sternen, dem Dessert-Verständnis, der Patisserie. Man muss sich auf ein neues Geschmackserlebnis einlassen und im Zugang möglichst frei sein.« Die Begrenzung unterliegt schließlich der Unbegrenztheit und dennoch ist es der Raum zwischen den Gegensätzen, der das Gefühl der Befreiung überhaupt möglich macht. CODA verbindet die Welten aus Küche und Patisserie auf eine dermaßen natürliche Weise, dass die bisher wahrgenommenen Grenzen aufgelöst werden, und schafft dadurch einen innovativen kulinarischen Erfahrungs- und Möglichkeitsraum. Über zwanzig Jahre hat der gebürtige Allgäuer international sowohl als Koch als auch als Patissier in den besten Häusern gearbeitet und Erfahrungen gesammelt. Als Gründer und Mitinhaber leitet er heute das Zwei-Sterne-Michelin-Restaurant CODA im Szene-Kiez in Berlin-Neukölln. »Für mich war von Anfang an klar, dass ich einmal ein eigenes Restaurant haben möchte. Da muss man sich in allen Bereichen auskennen«, erzählt René Frank. 2009 im »La Vie« wurde ihm schließlich bewusst, dass er sich auf die Patisserie konzentrieren wird. Dass man als Patissier die Vision eines eigenen Restaurants verwirklichen kann, hat Frank bewiesen und damit auch eine Lanze für seine Zunft gebrochen.

Dahinter steckt nicht nur Talent und Leidenschaft, sondern ein konse-quenter Entwicklungsprozess. »Wir haben das Menü seit der Eröffnung 2016 laufend ausgebaut«, beschreibt der Sternekoch und meinte weiter: »Die Süße wurde reduziert und sehr hochwertige Produkte wurden eingearbeitet. Um als Restaurant wahrgenommen zu werden, ist das unab-dingbar, wie der Michelin-Stern, der dann auch kam. Wir mussten überzeugen in: Produktqualität, Konstanz und Vergleichbarkeit mit einem Restaurantkonzept.« Die Crew arbeitet in zwei Schichten. Die erste produziert, die zweite richtet am Abend an und vollendet das kulinarische Erlebnis. Alles und zwar gar alles wird aus natürlichen Zutaten selbst hergestellt. Das Zauberwort lautet dabei umami – der neben salzig, süß, sauer und bitter fünfte Geschmack, der von der Zunge wahrgenommen wird. Im Japanischen bedeutet der Begriff »köstlich, schmackhaft«. Umami schmeckt intensiv herzhaft und so kann auch ein Tellerdessert geschmacklich »fleischig, würzig« wahrgenommen werden. Wenn im CODA gezielt gesüßt wird, dann mit Honig, Ahornsirup oder der Reduktion von Trauben. Weißen Zucker gibt es keinen. Das ganze Menü ist glutenfrei. Die Ästhetik der Gerichte ist auf das Wesentliche reduziert und dadurch formal ansprechend. Um es in Kunstbegriffen zu beschreiben: konkret, minimalistisch und zwischendurch auch abstrakt expressionistisch. »Die Optik ergibt sich im letzten Schritt der Entwicklung, sie wird nicht von mir konstruiert«, erklärt der Sternekoch und bestätigt damit, dass wahre Kunst nicht rational, sondern im Prozess inspirativ und intuitiv entsteht. 

Alle Gerichte, die René Frank kreiert, sind im weitesten Sinne beseelt von Desserts, jedoch findet der Meister innerhalb dieser Sprache einen eigenwilligen Ausdruck, einen improvisatorischen Gestus, der seinesgleichen sucht. Beispielsweise eine Waffel, die in allen Details über die Ästhetik einer solchen verfügt, aber in einer krosszarten Konsistenz herzhaft nach Raclettekäse schmeckt oder ein Dessert mit Aubergine, das Verbindungen zu Italien und Griechenland erahnen lässt oder ein Mascarpone mit Grapefruit, Wirsing und einem Hauch Kakao, der im weitesten Sinne an Tiramisu erinnert, aber viel ausgewogener schmeckt. »Ich muss mich an Gewohnheiten festhalten, weil es der Gast dann besser versteht. Die Menüfolge ist wie in einem Restaurant. Wir starten mit Snacks und einem Aperitif und es folgen herzhafte Gänge.« Kürzlich hat der reiselustige Bahnbrecher in der Türkei Kürbis und Sesam entdeckt. Nun denkt er darüber nach, wie er diesen Geschmack auf der Zunge auf seine Art und Weise interpretieren kann. Auch wenn die Menüfolge »klassisch« ist, so ist das Element der »Pairing Drinks« innovativ. »Ich habe nie so richtig an eine perfekte Weinbegleitung geglaubt. Das konnte ich in meinem Kopf nicht vereinbaren. Der Wein ist nicht veränderbar. Er ist so wie er ist. Wie kann er also perfekt zum jeweiligen Gericht passen?«, fragt sich René Frank, der selbst ein großer Weinliebhaber ist. Um das Dilemma zu umgehen, kreiert der Bartender im CODA zu jedem Gang Drinks, die in feinsten Nuancen an das Gericht angepasst werden. Das angenehme Maß der Drinks lässt noch ausreichend Spielraum für einen Wein und das ist auch gut so, denn die Auswahl an edlen Tropfen ist im CODA hervorragend, die Sommelière charmant fachkundig.
Der Mut, die Idee eines eigenen Restaurants in die Realität umzusetzen, wurde bei einem Aufenthalt in Japan bestärkt. René Frank war ein halbes Jahr dort, hat einen Intensiv-Sprachkurs gemacht, mit Japanern zusammen-gelebt und Praktika in traditionellen Restaurants wie dem »Nihonryori RyuGin« (3* Michelin) in Tokyo und dem »Kikunoi« (3* Michelin) in Kyoto absolviert. »Ich habe viel über Produktqualität gelernt, über authentischen Respekt vor den Produkten und die erstaunliche Wertschätzungskultur dafür. Wenn in Japan ein Sushi-Restaurant oder eines, in dem nur frittiert wird (Tempura), zwei oder drei Sterne bekommen kann, dann geht das mit Tellerdesserts allemal. Manchmal kann ein klarer Fokus, dafür umso komplexer aus- und aufgearbeitet, mehr sein. In Japan kommt es beispielsweise auf die Schnitttechnik an, um unterschiedliche Texturen zu erzeugen und es werden alle fünf Geschmacksrichtungen in Betracht gezogen.«


So ein komplexes Konzept schreit auch nach dem richtigen Standort. Die Entscheidung, sich in Berlin niederzulassen und dann auch noch im Szene-Kiez Neukölln, war kein Zufall. »Berlin ist offen. Jeder kann das machen, was er möchte und sein, wer er möchte. Ich kann mir jetzt ein rosa Tutu anziehen, raus auf die Straße gehen und dort eine Pirouette machen, niemand wird mit dem Finger auf mich zeigen«, erklärt der Sternekoch. Hier hat man ihm und seinem Team die Chance gegeben, das zu tun, worauf sie »Bock« hatten. 2019 kam der erste Michelin-Stern, ein Jahr danach der zweite und 2022 die Auszeichnung von »The World’s 50 Best Restaurants«. »Das hätten wir in einer anderen Stadt nicht so geschafft«, ist René Frank überzeugt. Der Sternekoch ist ein Tüftler. »Mittlerweile beschäftigen wir eine Person, die mit mir zusammen permanent Research & Development betreibt. Die Erwartungshaltung an uns wird durch die Auszeichnungen immer größer. Insofern müssen wir auch zunehmend besser performen. Vieles kommt aus dem Bauch und reift heran. Dennoch braucht ein Kreativprozess auch entsprechend gute Recherche.«

An Expansion wurde auf unsere neugierige Nachfrage hin tatsächlich auch schon gedacht, aber nicht in Form eines zweiten CODA. »Nein. CODA ist wie ein kleines wildes Kind, das viel Aufmerksamkeit fordert. In der Form, wie wir das hier betreiben, ist es einmalig und das wird auch so bleiben.« René Frank möchte als Koch und Patissier noch andere Dinge machen und könnte sich auch ein neues Konzept vorstellen. »Ich möchte etwas runterbrechen und für jeden zugänglich machen. Einen Ort, wo man reinspazieren, staunen und genießen kann.« Vielleicht ist das ja, musikalisch ausgedrückt, schon der erste Schritt des Anlaufs für den Sprung in die Codetta.

Abbildungen:
1: CODA Signature Dish: Kaviar Popsicle mit französischem Osietra Kaviar "Jasmine" Sturia
2: Sternekoch René Frank produziert selber Schokolade aus kontrolliert angebauten Kakaobohnen
3: Gegrillter Apfel, Hafer, Schalotte, Sultaninen
4: Karotten-Joghurt-Mousse, Ingwer, Finger-Lime, Buchweizen
7: Geeiste Rote Beete, Mosbeere, Tofu
8: Kopfsalat, Frischkäse, getrocknete Salzgurke
1-10 Copyright: Claudia Gödke