Den asiatischen Kontinent betrat ich bisher nur über meinen vertikalen Handybildschirm oder durch Erzählungen aus Märchen und Legenden. Eine Reise in das Land der Kimonos und der Bollywoodromantik würde mich dennoch reizen; den Orient male ich mir als exotische und farbenfrohe Schatzkammer aus, wie Tausendundeine Nacht.

An jene orientalische Atmosphäre denke ich, als ich einen flüchtigen Blick in das fabelhafte Schaufenster einer unverwechselbaren Boutique in der Mailänder Via della Spiga werfe. An jenem verregneten grauen Morgen funkeln meine Augen plötzlich und nach wenigen Schritten entscheide ich mich, zu ebendieser Boutique zurückzukehren, die wie ein Kuriositätenkabinett wirkt. Meine Neugierde ist unaufhaltbar und ich scheine durch den Anblick verzaubert: Handelt es sich bei den ausgestellten Objekten in der Vitrine um delikate Kunstwerke oder um »tragbare« Handtaschen? Ein halbes Jahr später darf ich das Archiv von Rosantica in Mailand besuchen. Meine Augen funkeln erneut, als ich die Handtaschenunikate zu Gesicht bekomme. Der Marmortisch vor mir füllt sich rasch mit traumhaften Kreationen aus Perlen, Kristallen, Quasten, Samt, Seide und Federn. Michela Panero, die Gründerin von Rosantica, schreibt Kunsthandwerk groß. Seit 2019 wird jede Tasche mit Liebe zum Detail handgefertigt – und dabei gibt es keine kreativen Grenzen. Im Sandkasten der künstlerischen Freiheiten wird mit Form und Farbe gespielt und nicht selten auch mit Traditionen experimentiert. Daraus resultieren surreale Strukturen, die meist an Architektur und Futurismus anknüpfen. Das Designteam von Rosantica blickt dabei gerne ab und an in die Vergangenheit der Taschenhistorie. Es sind nämlich ihr modisches Erbe und ihre Kunstfertigkeit, die im 21. Jahrhundert so an Handtaschen geschätzt werden. Wirft man einen Blick auf Vintage-Handtaschen, so erkennt man rasch, dass Taschen den Zeitgeist einer Ära widerspiegeln.

Ihren Ursprung haben Handtaschen in der Bronzezeit in Europa und in der Shang Dynastie in China, wo sich überwiegend Hüfttaschen vorfinden. Bereits damals galten Taschen in Form von sichtbaren Taillenbeuteln als Statussymbole. Später wurden Hängetaschen in den Röcken der Damen versteckt. In der Mitte der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts entwickelten sich Taschen schließlich zu dekorativen Elementen, die Frauen der wohlhabenden Schicht, elegant an ihren Handgelenken trugen. Um die Jahrhundertwende trugen Frauen sowohl durch Rahmen verstärkte und geformte Taschen mit Henkeln als auch sogenannte »Pochettes«, die Vorgängerinnen der henkellosen Unterarmtaschen (»Clutches«) für tagsüber. Aus der ursprünglich von jüngeren Frauen getragenen »Pochette« wurde die ultramoderne Clutch und in den 1930er-Jahren waren große, geradlinige Modelle im Briefumschlagformat die trendigsten Taschen des Jahrzehnts. Genau wie die taillierten Kostüme und femininen Kleider der Dreißigerjahre, wurden auch die damaligen Taschen vom Art déco beeinflusst und mit überdimensionalen Schmuckknöpfen, Schnallen sowie mit auffälligen Henkeln verziert. Charakteristisch für die damaligen Abendhandtaschen sind edelsteinbesetzte Art-déco-Verschlüsse in Broschenoptik, mit Steppnähten und schlichten Stickereien sowie selteneren Logos von Juwelieren wie beispielsweise Cartier. Die praktische und zweckdienliche Schultertasche der frühen 1940er-Jahre passt wiederum zur nützlichen Kleidung der Kriegsjahre. Gegen Ende der Vierzigerjahre wurde das Taschendesign schließlich strukturierter. Unter den Neuheiten der Fünfzigerjahre befanden sich US-amerikanische Handtaschen aus Plexiglas. Aus diesem hoch entwickelten Kunststoff fertigte Will Hardy eine Reihe von robusten, durchsichtigen und kistenähnlichen Handtaschen an – die sogenannten Lucite Handbags, die später aufgrund der hohen Nachfrage im geografischen Raum von
Miami umgangssprachlich in Florida Handbags umgetauft wurden.

Der visuelle Reiz dieser dekorativen Stücke sorgt dafür, dass sie bei Sammlern bis heute noch sehr beliebt und rar sind. Auch im Design der 1960er-Jahre finden sich Kunststoffe, die gut für die geometrischen Op-Art-Muster und den Glanz des Weltraum-Looks geeignet waren. Metallgewebe und -glieder fanden ihren Weg zurück in die Mode; allerdings nicht durch die kleinen glitzernden Täschchen der Zwanzigerjahre inspiriert, sondern zum Zweck einer industriellen Ästhetik und eines futuristischen Stils. In starkem Kontrast dazu erschienen in den späteren Sechzigerjahren erstmals Vintage-Handtaschen in Form der traditionellen, leicht abgenutzten Arzttasche sowie der sogenannten »Teppichtaschen« des 19. Jahrhunderts. Letztere waren aus Teppichresten gefertigte Reisetaschen, die auseinandergefaltet werden konnten und so Handelsreisenden als Schlafunterlage dienten. Neben den mit Fransen, Makramee und Perlen verzierten Schultertaschen aus Wildleder wurden die Vintage-Modelle zu den beliebtesten Taschen des Jahrzehnts. Die Begeisterung der 1980er-Jahre für farbenfrohes Power-Dressing und auffällige Accessoires bedarf keiner weiteren Erklärung. Die architektonische Aufmachung sowie die auffälligen Elemente der Taschen jenes Jahrzehnts legten den Maßstab für das Design fest. Der gemeinsame Nenner aller Jahrzehnte liegt zweifellos in ihrer Einzigartigkeit – eine Handtasche verkörpert die Form einer maßgeschneiderten Rarität. Jene kostbare Originalität und Inspiration verspüre ich im märchenhaften Mailänder Atelier. Rosanticas Kreationen sind viel mehr als glitzernde Modeaccessoires: Die Taschen setzen ein Statement und sind dabei alles andere als unauffällig. Sie erzählen von einem Zauber, der meinen Augen bislang nur aus dem Orient vorschwebte. Rosantica ist für mich ein kreativer Spiegel der fantasievollen Gegenwart im Wechselspiel mit der Vergangenheit und einem zukunftsgerichteten Blick.