Else Blankenhorn (1873–1920) ist die einzige Frau, der Hans Prinzhorn ursprünglich ein eigenes Kapitel in seinem Buch Bildnerei der Geisteskranken (1922) widmen wollte. Dazu kam es jedoch nicht; auch eine geplante Monografie wurde nie geschrieben. Die 2022 in der Heidel­berger Sammlung Prinzhorn mit begleitendem Katalog gezeigte Retrospektive »Das Gedan­kenleben ist doch wirklich«, die vom 12. April bis 18. August 2024 im Haus der Künstler in Gugging bei Wien zu sehen ist, gibt einen tieferen Einblick in das Œuvre der bekanntesten Künstlerin der Sammlung Prinzhorn.

FAMILIÄRER HINTERGRUND
Else Blankenhorn war »höhere Tochter« einer badischen großbürgerlichen Familie. Die Blankenhorns gehörten zur regionalen Elite von Müllheim im Markgräflerland im Südwesten Badens. Blankenhorn wuchs als Älteste von insgesamt sechs Geschwistern in einem Pro­fessorenhaushalt in Karlsruhe auf. Ihr Vater Adolph Blankenhorn (1843–1906) widmete sich an der dortigen Hochschule als Önologe der Erforschung des Weinbaus. Else Blankenhorn besuchte die elitäre, großherzogliche Viktoria-Schule und verbrachte die Ferien mit ihren Geschwistern bei den Großmüttern in Müllheim. In den ausgedehnten Garten- und Park­anlagen und auf dem Familienweingut Blankenhornsberg am Kaiserstuhl entwickelte sich Blankenhorns Naturverbundenheit und botanisches Interesse, das sich in ihrem späteren künstlerischen Werk widerspiegelt. Blankenhorns Zukunft schien vorherbestimmt: Sie würde eine gute Heiratspartie abge­ben, womöglich in Adelskreise aufsteigen und eine sozial engagierte, geachtete Rolle in der Gesellschaft einnehmen. Doch es kam ganz anders: Der von ihr favorisierte Max Freiherr von Holzing-Berstett heiratete nicht sie, sondern ihre beste Freundin Elsa von Seldeneck.

DAS PRIVATSANATORIUM BELLEVUE
Mit einer nervösen Krise und dem Verlust ihrer Singstimme kam Blankenhorn 1899 ins luxu­riöse Schweizer Privatsanatorium Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee und blieb dort bis 1902. Nachdem im Dezember 1905 ihre geliebte Großmutter Friederike Blankenhorn und kurz danach im Januar 1906 ihr Vater starben, musste die 33-Jährige ein zweites Mal ins Bellevue. Von Verfolgungsängsten geplagt, übersiedelte sie in die geschlossene Villa Tannegg. Dort standen ihr zwei Räume mit eigenen Möbeln und einem Harmonium zur Verfügung. Versorgt wurde sie von ihrer persönlichen Pflegerin Berta Pecoroni. In dieser – verhältnismäßig – an­genehmen Umgebung, für die ihre wohlhabende Familie bezahlte, musizierte, komponierte, fotografierte, schrieb, übersetzte, strickte und stickte Blankenhorn, bevor sie 1908 auch zu zeichnen und zu malen anfing. Knapp 300 Werke sind in der Sammlung Prinzhorn erhalten: Neben Notiz- und Tagebüchern, Farb- und Bleistiftzeichnungen gibt es rund 80 Aquarelle und etwa 100 Ölgemälde.

 

 

Auch anderen Patient*innen ermöglichte das Sanatorium Bellevue künst­lerisches Schaffen als Mittel zur Heilung: der Maler Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), seine Schülerin Nele van de Velde (1897–1965), der Kunsthis­toriker Aby Warburg (1866–1929) und der russische Tänzer und Choreograf Vaslav Nijinsky (1889–1950) wurden im Bellevue künstlerisch gefördert.

»DAMALS HABE ICH EINEN WEG GEÖFFNET, DER NACH DER KUNST GEHT«
Blankenhorn hatte an der Viktoria-Schule in Karlsruhe Klavier- und Zeichen­unterricht erhalten und in ihrer Heimatstadt Kunst ihrer Zeit gesehen. In ihrem Werk lassen sich Kenntnisse von Symbolismus, Expressionismus und japanischer Kunst nachweisen. Trotz Anklängen an die Karlsruher Kunst­szene entwickelte Blankenhorn ihre eigene künstlerische Bildsprache zu einer expressiven Malweise mit vereinfachten Formen, energischem Pinsel­strich und starken Farbkontrasten. Ihre symbolischen Bildmotive sind oft schwer zu entschlüsseln. Viele bleiben in der Widerspiegelung ihrer Innen­welt rätselhaft. Eine chronologische Ordnung von Blankenhorns Werken ist schwierig. Ein paar eigenhändige Datierungen von Zeichnungen stammen von 1908 und 1919.

In seltenen Fällen können Werke aufgrund ärztlicher Notizen oder der Erwähnung in der Krankenakte datiert werden, das ist jedoch die Ausnahme. Aufgrund der vorhandenen Datierungen wissen wir, dass Blankenhorn von Anfang an bis kurz vor ihrem Tod im Auftrag ihres imaginierten kaiserlichen Gatten Wilhelm II. Geldscheine produzierte, um die Auferstehung begrabener Liebespaare zu finanzieren. Sie sollten im Haus der Liebenden die »ewige Häuslichkeit« und in himmlischen Szenen die Auferstehung erleben. In Doppel-Engel-Darstellungen wird die Symbiose zwischen Kaiserin Else und Kaiser Wilhelm beschworen, die auch in der Namensverschmelzung »Wilhel-else-m« zum Ausdruck kommt. Auch ihre Pflegerin Berta wird zur Bildung einer »Dreieinigkeit« einbezogen. Blanken­horn produzierte in »treuer Eheliebe« Banknoten mit fantastischen Summen: Millionen, Milliarden, Billionen, Quadruplonen, Quintuplonen, Seiduplonen, Nonante Duplonen und Centuplonen Mark, Taler, Gulden und Gold.

Der Kaiser war in Blankenhorns Vorstellung der »innerlichste Mann von allen« und ihr »Gatte im Geiste«. Als solcher ist er auf einer Zeichnung in einem Notizheft als kleines Männchen in einem weiblichen Kopf zu er­kennen. In einem Gemälde wächst er zudem wie eine Kopfgeburt aus einer weiblichen Figur hervor. Die Glorifizierung des Kaisers spiegelt sich in gold­eingefassten Porträts, Kronensymbolen und in Auferstehungsszenen wider, wobei sich Blankenhorn in einigen Selbstbildnissen auch selbst bekrönt und zur Kaisergattin ermächtigt. In zahlreichen Selbstporträts – als engel­haftes Wesen, weinlaubumrankte junge Frau, Sängerin und Komponistin, widerständige Baumfrau bis hin zur gekrönten Kaisergattin – durchlebte Blankenhorn unterschiedliche Identitäten neben väterlichen, kaiserlichen oder göttlichen Männeridealen. Sexuelles wird nur getarnt in der Natur zum Ausdruck gebracht, vul­vische und phallische Formen wachsen als Pflanzen- und Blütenformen zueinander. Die Verortung von Paardarstellungen in floraler Umgebung kommt dieser pflanzlich verbrämten Fortpflanzung entgegen. Das Veilchen, auch »Marienbräutli« genannt, ist ein Symbol der unerfüllten Sehnsucht nach einem idealen, kaiserlich oder göttlich erhöhten Partner.

Liebesgedichte verfasste Blankenhorn teilweise mehrsprachig mit eng­lischen, französischen und italienischen Passagen. Sie erinnert sich an den »Klang ihrer Jugendzeit«, beschreibt den besiegten »Sturm der Leiden­schaft« und die »Erlösung vom Liebesschmerz«. Diese Poesie klingt auch in ihren Gemälden nach. Texte und Bilder sind wechselseitige Resonanz- und Assoziationsräume. Auch religiöse Themen spielen bei Blankenhorn eine große Rolle. In Notiz- und Tagebüchern zitiert sie Bibelstellen und Himmel­fahrtslieder. Ein kleines Tännchen löst sie aus der christlichen Symbolik und erweitert es zu ihrem ureigenen, persönlichen Symbol, das ihr ganzes Werk durchzieht und für Schutz und Heilung steht, abgeleitet vom Namen des Rückzugsortes Haus Tannegg. In Architektur- und Landschaftsdarstellungen sind oft mythisch-religiöse Motive eingewoben: nächtliche Vollmondland­schaften, ein Mausoleum mit Trauernden, ein Klosterkreuzgang, Kapellen, Tempel und Pagoden mit Betenden. In Blankenhorns Studien – teilweise stark expressiv und abstrakt – wird Spirituell-Kosmisches und das »Wehen der Seele« spürbar.

FRÜHE REZEPTION VON BLANKENHORNS WERK
Der Maler Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) bezeichnete Blankenhorns Bil­der beeindruckt als »Kunstwerke höchster Art«. Als er 1917/1918 ebenfalls Patient im Bellevue war, hatte ihm der Leiter des Sanatoriums, Dr. Ludwig Bins­wanger, Blankenhorns Gemälde gezeigt, um ihn ebenfalls zu künstlerischer Tätigkeit zu inspirieren. Begeistert berichtete Kirchner seinem Freund Henry van de Velde: »Ich habe viel Anregung durch […] die Bilder einer Kranken, die mit außerordentlich feinem Gefühl für die Farben ihre Visionen hier malt.« In einem Skizzenbuch beschrieb Kirchner mehrere Werke Blankenhorns, unter anderem das Ölgemälde eines roten Reiters: »Eine zum Bedecken stehende Kuh mit grünem Frauenkopf wartet auf dem schwarzen Kreis der Sehnsucht isoliert auf den anspringenden roten Reiter auf rotem Pferd. Auf dem orange­farbenen Himmel flattert eine in Ekstase geöffnete Vulva«. Kirchners Bildinterpretationen beziehen sich im damaligen Zeitgeist auf Freuds Psychoanalyse und C. G. Jungs Archetypen. Mit seinem sexualsymbo­lisch gedeuteten roten Reiter lag er trotz des fehlenden Hintergrundwissens wohl nicht so falsch – Blankenhorns heimliche Jugendliebe, der Offizier Max Freiherr von Holzing-Berstett, wurde der »Rote General« genannt und war bekannt für seine Reitkunst.

DIE KAISERLIEBE VON ELSE BLANKENHORN UND ALOÏSE CORBAZ
Blankenhorn scheint in ihrer Kunst die ungelebte Liebe zu einem Adligen mit der unerreichbaren Liebe zum Kaiser sublimiert zu haben. Auch die aus der französischen Schweiz stammende Art-brut-Künstlerin Aloïse Corbaz (1886–1964) hatte Kaiser Wilhelm II. zu ihrem kompensatorischen Liebes­objekt auserkoren. Während ihres Anstaltaufenthaltes in La Rosière bei Gimel zeichnete sie Wilhelm II. in Erinnerung an ihre Zeit als Gouvernante am Hof in Sanssoucis erotisch aufgeladen und mit üppigem Blumende­kor verziert als »femme du Kaiser«. Da ihre Beziehung zu einem deut­schen Theologiestudenten nicht geduldet wurde, war sie zur Rückkehr in die Schweiz gezwungen. Corbaz‘ weibliche Figuren erinnern teilweise an Sphingen oder sind Damen ohne Unterleib, »die weder ja noch nein zu sa­gen wagen«. Eine Verschleierung der weiblichen Geschlechtlichkeit lässt sich auch bei Blankenhorn finden. Eine Arztnotiz auf der Rückseite eines Geldscheins von 1919 gibt eine Aussage Blankenhorns zum Geschlecht der dargestellten Engel wieder: Es könne nicht erkannt werden, weil die Beine zusammengewachsen seien. Dazu erklärte Blankenhorn: »Das ist sicher so, damit nichts passiert«

Wie Blankenhorn war ihre Schicksalsgenossin Aloïse Corbaz bei ihrer Einweisung 33 Jahre alt und unverheiratet. Auch sie hatte eine schöne Stimme und wäre wie Blankenhorn gerne Sängerin geworden. Sie schrieb religiöse Texte und begann Anfang der 1920er-Jahre in der Anstalt heimlich zu zeichnen. Seit den späten 1940er-Jahren bis kurz vor ihrem Tod 1964 wurde sie von der Ärztin Jacqueline Porret-Forel (1916–2014) gefördert und mit Buntstiften und Ölkreiden versorgt. Ihre meterlangen Bildbahnen sind in der Collection de l’Art brut in Lausanne zu sehen. Sie gilt als eine der wichtigsten Vertreterinnen der Outsider Art. Else Blankenhorn hingegen ist mit rund 100 Ausstellungsbeteiligungen die meistgezeigte Künstler*in der Sammlung Prinzhorn sowie in der Dauerausstellung des Museums vertreten.

Prinzhorn hatte ursprünglich für die Publikation von Bildnerei der Geistes­kranken zwölf schizophrene Meister geplant, musste sich aus Platzgründen jedoch auf zehn beschränken. Aufgrund der Komplexität des Œuvres von Else Blankenhorn und Heinrich Hermann Mebes (1842–1918) fielen zwei der bedeutendsten Künstler der Sammlung der Kürzung zum Opfer. Über 100 Jahre nach dem Erscheinen von Prinzhorns Klassiker treten nun beide mit ausführlichen Publikationen ans Licht der Öffentlichkeit.

 

Hier der Artikel mit allen Fußnoten.


Autorin: INGRID VON BEYME hat in Berlin Kunstgeschichte und Neuere Deutsche Literatur studiert - seit 2009 ist sie Kuratorin und stellvertretende Leiterin der Sammlung Prinzhorn.

 

Ausstellungsansicht »else blankenhorn.! eine retrospektive. das gedankenleben ist doch wirklich« im museum gugging,
© NÖ Museum Betriebs GmbH, Theo Kust

 

 

Ausstellung:
else blankenhorn.!
eine retrospektive das gedankenleben ist doch wirklich

bis 18. August 2024
museum gugging
Am Campus 2, A - 3400 Maria Gugging
www.museumgugging.at