Anu Põder im Muzeum Susch
Anu Põder (1947-2013) ist eine unter vielen Künstlerinnen, die einen einzigartigen und bedeutenden Beitrag zur Kunstszene der letzten Jahrzehnte geleistet haben, ohne jedoch internationale Anerkennung zu erlangen. Cecilia Alemani, die sich leidenschaftlich für die Sichtbarmachung weiblicher Schaffenkraft aus Vergangenheit und Gegenwart einsetzt, hat eine bedeutende Retrospektive kuratiert, die erstmals einen umfassenden Einblick in das Werk der Künstlerin außerhalb ihres Heimatlandes Estland bietet.
»Reisender« (Reisija, 1978) ist eines der ausgewählten Werke für die Ausstellung Anu Põder. Space for My Body in den suggestiven Räumlichkeiten des Muzeum Susch. Es ist eine der wenigen Skulpturen der Künstlerin aus Gips und zeigt eine weibliche Figur mit stilisierten Umrissen in sitzender Position und einem Koffer auf den Knien. Ihr gerader Blick nach vorne und ihre hieratische Haltung verleihen ihr eine Würde und Feierlichkeit, die das Bild einer antiken Göttin hervorrufen, wie die Kuratorin Cecilia Alemani1 bemerkt. Die Einfachheit ihrer Formen und das Fehlen individueller Merkmale lassen aber auch an eine außerirdische Kreatur oder eine Art Roboter denken, der Zeuge einer mehr oder weniger fernen Zukunft ist. Vergangenheit und Zukunft scheinen sich in dieser mysteriösen Figur zu vereinen, die als Metapher für die Lebensbedingungen in der Sowjetunion, aber auch als Projektion einer anderen Zukunft interpretiert werden kann. Das Paradox einer sitzenden Reisenden, die eine Idee von völliger Statik vermittelt, hatte zweifellos eine besondere Resonanz bei vielen Zeitgenossen der estnischen Künstlerin – für die Bürger der Sowjetunion war es Ende der 1970er Jahre schwierig, in irgendein Land zu reisen. Es ist Ausdruck des Wunsches, Werke zu schaffen, die die Vorstellung einer anderen als die vom sowjetischen Regime vorgeschlagenen Zukunft ermöglichen. »Põders frühere Werke konzentrieren sich auf eine mythische und neu erfundene Vergangenheit. Diese beginnen in den Achtzigerjahren durch das Verlangen, die Zukunft neu zu denken, ausgeglichen zu werden. Schließlich ist die Vorstellung der Zukunft ein zentrales Thema der nonkonformistischen Kunst des sowjetischen Blocks. In einem politischen und ideologischen System, das vollständig auf der Lehre vom Aufbau einer Zukunft der Gleichheit und des Wohlstands basiert, war es für Künstler nicht nur eine wesentliche und notwendige Mission, sondern auch ein Gegenmittel zu den brutalen Vereinfachungen des Staates, sich eine Zukunft jenseits der triumphierenden Rhetorik der offiziellen Propaganda vorzustellen“2, so die Kuratorin.
Reisender ist ein emblematisches Werk der Entscheidung der Künstlerin, in ihrer Praxis die Erforschung der Vergangenheit, deren Mythen und Traditionen mit der Vorstellung möglicher Szenarien und Figuren der Zukunft zu kombinieren. So entstanden Körper und Formen, die Konventionen herausfordern und einen hybriden sowie fragmentierten Charakter haben, der sowohl faszinierend als auch beunruhigend ist.
EINE WEGBEREITENDE WEIBLICHE STIMME
In dieser ersten bedeutenden Retrospektive der estnischen Künstlerin außerhalb ihrer Heimat – diese umfasst über 40 Werke, die zwischen 1978 und 2012 geschaffen wurden - liegt der Schwerpunkt auf ihrer zutiefst individuellen Erforschung des menschlichen Körpers, die nach Cecilia Alemani »die Fragilität, Vergänglichkeit und Hinfälligkeit des Lebens beleuchtet.« Die Kuratorin hatte in ihrer 2022 für die 59. Biennale von Venedig konzipierten internationalen Ausstellung The Milks of Dreams bereits Werke von Anu Põder einbezogen. Sie betrachtet die Künstlerin als eine herausragende Vertreterin der zeitgenössischen estnischen Kunst und merkt an, dass »ihre Arbeiten sich seit den Siebzigerjahren durch eine völlig originelle Konzeption und eine einzigartige und persönliche Umsetzung auszeichnen.« Alemani ist es ein Anliegen, das Werk Põders außerhalb Estlands bekannt zu machen und den Wert ihres Schaffens in der internationalen Kunstszene zu vermitteln. Die Ausstellung im Muzeum Susch markiert zweifellos einen wichtigen Schritt in diese Richtung und steht im Einklang mit der Hauptmission dieses Museums. Gegründet von der polnischstämmigen Unternehmerin und leidenschaftlichen Förderin zeitgenössischer Kunst, Grażyna Kulczyk, und eröffnet im Jahr 2019, konzentriert das Museum sich in der Tat hauptsächlich auf die Präsentation und Förderung der Arbeit von Künstlerinnen, deren Praktiken oft vernachlässigt, unterschätzt oder einfach missverstanden wurden. Eine der charakteristischen Eigenschaften des Museums und dessen Forschungs- und Vermittlungsprogrammen ist die Neuinterpretation des Kanons und dessen, was als marginal gilt. Die Retrospektive von Anu Põder spiegelt diese Vision zweifelsfrei wider.
Aktiv während der sowjetischen Besatzung Estlands – die 1940 begann – und der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991, verkörpert die Künstlerin, um Cecilia Alemanis Worte zu verwenden, »jenen Sinn für Unsicherheit, den das estnische Volk hinsichtlich seiner eigenen Identität empfindet.« Sie ist eine der wenigen weiblichen Künstlerinnen in einem männlich dominierten Kontext. Ihr Werk widmet sich weitgehend der Erforschung der weiblichen Identität, wodurch sie sich der Praxis anderer Künstlerinnen auf der internationalen Bühne wie Magdalena Abakanowicz, Louise Bourgeois, Ana Mendieta und Alina Szapocznikow annähert.
ELEMENTE DES ALLTAGS UND UNGEWÖHNLICHE MATERIALIEN
Im Gegensatz zu den meisten ihrer Kolleg:innen – insbesondere den Männern –, die die Ideale der sowjetischen Gesellschaft in traditionellen Materialien wie Stein oder Bronze darstellten, entwickelte Anu Põder eine einzigartige und intime bildhauerische Sprache, bestehend aus Elementen und Gegenständen des täglichen Lebens sowie ungewöhnlichen Materialien wie Wachs, Jute, Seife, Plastik, Fett, Linoleum und Textilien.
Die Ausstellung folgt einer chronologischen Reihenfolge und gliedert sich in drei große Kapitel, die jeweils verschiedene Gruppen von Arbeiten und Aspekte präsentieren, die die Produktion der estnischen Künstlerin über die Jahrzehnte hinweg charakterisiert haben.
Der Rundgang beginnt mit einer Sammlung von Werken, die von Ende der Siebziger- bis Anfang der Neunzigerjahre reichen und in denen der weibliche Körper und dessen Neuinterpretation im Mittelpunkt stehen. Diese erste Sektion ist von Puppen, Mannequins, hybriden Figuren, Büsten und Assemblagen aus anatomischen Fragmenten und amorphen Elementen bevölkert, hergestellt aus ungewöhnlichen Materialien wie Plastik, Jute, Wolle und Epoxidharzen.
Diese fragmentierten, unvollständigen und entstellten Anatomien erinnern unweigerlich an die surrealistische Poetik, insbesondere an die erotisch aufgeladenen Puppen von Hans Bellmer oder die weichen Skulpturen von Dorothea Tanning. Dennoch gibt es keine direkten Belege dafür, dass die Künstlerin damit vertraut war. Ihre Sprache ist das Ergebnis einer persönlichen und experimentellen Forschung, die Cecilia Alemani wie folgt zusammenfasst: »In dieser Serie von Skulpturen aus den Achtzigerjahren wird der Körper zu einem Ort des Experimentierens: Die Glieder verdrehen sich, die Haltungen sind niemals geradlinig, die Körper umarmen und verkeilen sich, harte Materialien treffen auf brüchige Werkstoffe. Põders Skulpturen bewohnen diese fließende Schwelle zwischen der Bekräftigung der Körperlichkeit und dem Unbehagen, das diese erzeugt. Põders Material- wahl erhöht das Gefühl der Prekarität und Komplexität dieser Skulpturen: Die Nähe von Plastik- und Faseroberflächen verwandelt diese Objekte in mysteriöse Fusionen aus Natürlichem und Künstlichem, die diese noch zeitgenössischer erscheinen lassen. Sie sind fantasievolle und wandelnde Kreaturen, ähneln eher Aliens als den athletischen Körpern sowjetischer interstellarer Forscher. Põders Kreationen sind Cyborgs, die Organisches und Anorganisches in unerwarteten Kombinationen mischen und neue, unendliche Möglichkeiten des Zusammenlebens zwischen verschiedenen Arten und Technologien vorschlagen. Aus diesem Grund scheinen ihre Skulpturen heute mit den Arbeiten junger internationaler Künstler zu korrespondieren, die ebenfalls neue Wege suchen, um das Menschliche, Tierische und Künstliche zu verflechten.«3 Das Interesse, Anu Põders Kreationen näher zu untersuchen und einem breiteren Publikum zu präsentieren, liegt vor allem in dieser Nähe ihrer Erkundungen zur feministischen Sensibilität von Donna Haraway und ihren Überlegungen zum Cyborg sowie zur Praxis zahlreicher zeitgenössischer Künstler:innen, die der Vorstellung von Körpern und Identitäten Bedeutung beimessen, die heteronormative Codes herausfordern und mehr Raum für Individualität und Komplexität jedes Einzelnen lassen.
DIE AUFLÖSUNG DES KÖRPERS
Im zweiten Teil der Ausstellung löst sich der Körper als solcher auf un macht Platz für Kleidungsstücke und Accessoires, die als eine Art Ersatz für den Körper zu interpretieren sind. Die Künstlerin verwendete Mäntel, Jacken und Taschen, die sie zerschnitt, sezierte und modifizierte. So schuf
sie eindrucksvolle, poetische Werke und Installationen, die von einer Aura des Mysteriums durchdrungen sind. Die Verwendung dieser neuen Medien – die stärker mit einem häuslichen Kontext und den konsumistischen Dynamiken des Alltags verbunden sind – fällt mit dem Aufkommen der Konsum- wirtschaft in Estland nach der Unabhängigkeit im Jahr 1991 zusammen. In diesem Kontext des Wandels und der Annäherung an den Kapitalismus versucht Anu Põder eine Auseinandersetzung mit einer anderen Ökonomie der Körper: Der Körper in dessen Physis und die Haut werden scheinbar durch alles ersetzt, was dazu gedacht ist, diese zu bedecken und zu verbergen.
In den Neunzigerjahren begann die Künstlerin, expliziter mit Stoffen, Geweben und Kleidungsstücken zu arbeiten. Sie wickelte ihre Figuren so- gar in Arten von Säcken ein, wie in dem Werk »Long Bag« (1994). Für die Schaffung dieses Werks »recycelte« die Künstlerin eine ihrer ersten Puppen, indem sie diese in einen langen Stoffbeutel integrierte – deren Silhouette ist kaum unter einer dicken Schicht aus dunklem Wollstoff sichtbar, die sich vor der Puppe über mehrere Meter erstreckt. Es ist eine der düstersten Skulpturen von Põder. Die Skulptur ruft ein Gefühl der Erstickung, Unterdrückung und Klaustrophobie hervor und deutet den negativen Einfluss an, den kapitalistische Ideale und die daraus resultierende Objektivierung der Körper insbesondere auf die Wahrnehmung des weiblichen Körpers und die Identität haben können. Der letzte Abschnitt der Ausstellung versammelt die jüngsten Arbeiten von Anu Põder, die sich auf unsere Beziehung zu den Sinnen, zur Ernährung und zum Begehren konzentrieren. Diese Werke verwenden oft Lebensmittel als Material oder erinnern durch deren Materialität an sie und thematisieren den vergänglichen Charakter von Elementen, die sich verändern, abbauen und schließlich verschwinden.
Das Werk der estnischen Künstlerin hat sich kontinuierlich mit der Meta- morphose von Körpern, Objekten, Formen und Materialien auseinanderge- setzt. Es führt uns in eine einzigartige Welt, in der das Feld des Möglichen scheinbar keine Grenzen kennt.
Ausstellung:
ANU PÕDER: SPACE FOR MY BODY
bis zum 30. Juni 2024 MUZEUM SUSCH
Surpunt 78, CH - 7542 SUSCH
www.muzeumsusch.ch