Das künstlerische Schaffen von Dana Awartani, das sich zwischen Zeichnung, Malerei, Textilkunst, Multimediainstallationen und Video bewegt, schöpft seine Inspiration aus dem reichen Erbe der islamischen Kunst, insbesondere der heiligen Geometrie, aber auch aus dem traditionellen Kunsthandwerk verschiedener Regionen der Welt. Dank ihres umfassenden historischen und technischen Wissens und ihrer Zusammenarbeit mit Handwerkern verschiedener Disziplinen schafft die Künstlerin Werke, die ästhetische und formale Forschung, philosophische Reflexion, soziales Engagement und ökologische Sensibilität gekonnt miteinander verbinden. Der Dialog zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart der arabischen Kultur, die Nachhaltigkeit der verwendeten Materialien und die Aufwertung des lokalen Wissens ziehen sich durch ihr gesamtes Werk.

Porträt von Dana Awartani. Courtesy of Dana Awartani und Ali Alsumaiyn.


Eine Kunst der Vielfältigkeit

Dana Awartani hat eine natürliche Veranlagung, verschiedene räum-lich-zeitliche Realitäten, Kulturen, Traditionen und Wissen zusam-menzuführen. Sie fühlt sich in Grenzräumen zu Hause, in denen Identitäten verschwimmen und die Begegnung mit dem Anderen ein grenzenloses imaginatives Potenzial bietet. Multiple Räume und Identitäten charakterisieren auch die Künstlerin selbst: Sie ist palästinensischer Herkunft, wuchs in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf, absolvierte einen Teil ihres Studiums in der Türkei sowie in London und lebt heute zwischen Jeddah und New York. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie von Adriano Pedrosa ausgewählt wurde, um an der Biennale Arte 2024 teilzunehmen, die den Titel Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere trägt und sich mit Künstlern beschäftigt, die, wie der Kurator es ausdrückt, ten, Exilanten und Flüchtlinge sind, insbesondere diejenigen, die sich zwischen dem Süden und dem Norden der Welt bewegt haben«. Obwohl sie es gewohnt ist, sich in verschiedenen Realitäten und Traditionen zu bewegen und mit ihnen umzugehen, ist Dana Awartani in der Geschichte und Kultur des Nahen Ostens und der arabischen Kultur im Allgemeinen verwurzelt, die die wichtigste Inspirationsquelle für ihre künstlerische Produktion darstellen. Diese tiefe Verwurzelung äußert sich beispielsweise in einer umfassenden Kenntnis der islamischen Miniatur und Geometrie, aber auch in einem Interesse an künstlerischen Traditionen und Techniken aus verschiedenen arabischen Ländern. Dieses spezifische Wissen stellt für sie jedoch kein undurchlässiges Universum dar, in dem sie sich einschließt und traditionelle Konzepte, Strukturen und Praktiken unverändert fortführt. Vielmehr dient es ihr als ein Ausgangspunkt für deren Neuinterpretation durch die Begegnung und Konfrontation mit zeitgenössischen und globalen Empfindsamkeiten und Themen. Genährt von einer Vielzahl historischer Bezüge und Kenntnisse, die von der Philosophie bis zu Handwerkstechniken und indigener Medizin reichen, bewegt sich ihre Praxis zwischen Tradition und Innovation, Kunst und Handwerk, formalem Experimentieren und sozialem Engagement. Dana Awartani erforscht Ausdrucksformen wie Malerei, Bildhauerei und Performance sowie Handwerkstechniken unterschiedlichen Ursprungs. Diese Vielfalt an Ansätzen spiegelt sich auch in den Inhalten wider, die Themen und politische Anliegen wie Entkolonialisierung, kulturelle und soziale Erneuerung, Gleichstellung und Nachhaltigkeit berühren.

Heilige Geometrie und die Erhaltung des kulturellen Erbes
Die Auseinandersetzung mit der islamischen Geometrie und ihren symbolischen, philosophischen und spirituellen Dimensionen spielt eine herausragende Rolle im Werk der Künstlerin mit der Entwicklung geometrischer Muster und Motive, die traditionelle Kunstformen des Nahen Ostens feiern und gleichzeitig neu erfinden. Die für die Biennale Desert X AlUla 2022 geschaffene Skulptur Where the Dwellers Lay (2022) beispielsweise, ist von der traditionellen Architektur der Region AlUla in Saudi-Arabien und insbesondere von den nabatäischen Gräbern in der archäologischen Stätte von Hegra inspiriert. Die konkave geometrische Skulptur aus lokalem Stein bezieht sich auf diese in vorislamischer Zeit in den Felsen geschlagenen Strukturen und ihre dekorativen Fassaden. Ihre Unterteilung in zehn Stufen ist eine Anspielung auf das Treppenmotiv, das üblicherweise auf Grabfassaden eingemeißelt wird, aber auch auf die spätere bildhauerische Ausarbeitung der islamischen Geometrie. Gleichzeitig zeigt dieses Werk Formen und Farben der für die Region typischen Felsformationen, Höhlen, Schluchten und Berge. Es steht somit in einem engen Dialog mit der Umgebung, in der es sich befindet, und ist gleichzeitig eine Hommage an die verschiedenen Zivilisationen und deren Kultur, die Saudi-Arabien bewohnt haben. Die ortsspezifische Installation Standing by the Ruins (2019), die in der Festung Rottembourg am Rande der marokkanischen Stadt Rabat realisiert wurde und heute das Nationale Museum für Fotografie beherbergt, bezieht sich ebenfalls auf die islamische Geometrie. Inspiriert von der Einsamkeit und der melancholischen Ausstrahlung dieses Gebäudes mit Blick auf die Weite des Meeres – das dem Verfall preisgegeben war, bevor es kürzlich restauriert wurde –, schuf die Künstlerin eine Installation, die den typischen geometrisch gemusterten Fliesenboden nachbildet, der in der gesamten muslimischen Welt verbreitet ist. Das Werk, das sich auf das lokale Kunsthandwerk der »zellij«, der aus glasierter Terrakotta geschnittenen Fliesen, bezieht, besteht aus einer Reihe geometrischer Elemente in verschiedenen Farben, die aus verschiedenen, in ganz Marokko gesammelten Erdtypen und in Zusammenarbeit mit einer »zawiya« von Töpfern hergestellt wurden. Die Installation entstand in Anlehnung an die alte Lehmbauweise – eine weltweit verbreitete Technik, bei der ungebrannte Lehmziegel verwendet werden, die von Hand mit oder ohne Form und ohne Verdichtung hergestellt werden und auf natürliche Weise trocknen. Durch das bewusste Auslassen der entscheidenden Schritte zur Verfestigung der Erde wollte Dana Awartani Fliesen schaffen, die im Laufe der Zeit zerstört werden, Risse bekommen und schließlich zerbröckeln. Sie lässt so eine Reflexion über die Zerstörung des architektonischen und kulturellen Erbes des Nahen Ostens und Nordafrikas zu. Dieses Werk hinterfragt den Lauf der Zeit und die Beziehung jeder Gesellschaft zu ihrer Geschichte, die Bewahrung ihres Erbes und die daraus resultierende Erhaltung einer kollektiven Erinnerung und Identität.

 

 

Ähnliche Themen finden sich auch in der Multimediainstallation I Went Away and Forgot You. A While Ago I Remembered. I Remembered I'd Forgotten You. I Was Dreaming (2019), einer Meditation über traditionelle islamische Architektur, Kunst und Handwerkskunst, die aus einer Bodeninstallation und einem Video besteht, die wie ein Ritual des Aufbaus und der Zerstörung sind. Über mehrere Tage hinweg hat die Künstlerin zunächst einen Teppich aus lokalem Sand zusammengesetzt, den sie zuvor mit natürlichen Pigmenten mineralischen und pflanzlichen Ursprungs in verschiedenen Farben eingefärbt hatte. Das Muster, das durch das Nebeneinanderstellen der farbigen Sande entstand, erweckte die Illusion eines Bodens mit traditionellen geometrischen Mustern. Das Werk wurde durch ein Video ergänzt, das nach der Montage desselben geometrischen Musters auf dem Boden eines alten verlassenen Hauses in der Altstadt von Dschidda entstand, wo die Großeltern der Künstlerin lebten. Das Video zeigt Awartani, wie sie die Sandfliesen mit einem Besen zerstört – eine symbolische Geste, die auf die moderne Zerstörung unseres kulturellen Erbes und, zumindest teilweise, auch unserer Identität hinweist; ein Phänomen, mit dem die Länder des Nahen Ostens sehr oft konfrontiert sind. In diesem Sinne spielt der Schauplatz der Szene eine wichtige Rolle. Das Gebäude, in dem das Video gedreht wurde, war in der Tat ein typisches Wohnhaus der reichen lokalen Elite in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren; einer Zeit, in der sich neue Gebäude in Dschidda im Allgemeinen von der traditionellen Hejazi-Architektur entfernten und eine europäischere Ästhetik annahmen, die von westlichen Idealen der Funktionalität und Einfachheit geprägt war. Mit dieser radikalen Geste will Dana Awartani die Wichtigkeit betonen, die historische und kulturelle Identität der Region zu bewahren und zu erhalten – und zwar nicht als klare Ablehnung der Modernisierung verstanden, sondern vielmehr als harmonische Koexistenz von Alt und Neu. In der Installation werden die Notwendigkeit und Komplexität dieser Koexistenz in die Konfrontation zwischen der Sprache der Schönheit und Harmonie des raffinierten Sandbodens und der trockenen, entschiedenen Sprache des Videos übersetzt. Aus dieser Konfrontation entsteht eine Erzählung, die das Publikum für die Dringlichkeit sensibilisieren soll, ein größeres Gleichgewicht in der Dualität zwischen Schöpfung und Zerstörung, Vergangenheit und Gegenwart zu finden.

Ästhetik der Pflege
Kulturelle Zerstörung ist auch das zentrale Thema der auf der Biennale Arte 2024 präsentierten Installation mit dem Titel Come, let me heal your wounds. Let me mend your broken bones (2024). Sie ist Teil einer Reihe von Werken, die historischen Stätten gewidmet sind, die seit 2019 in der arabischen Welt durch Kriege und Terroranschläge zerstört wurden. Dana Awartani hat Löcher in einen leichten Seidenstoff gemacht, wobei jeder Riss auf einen Ort verweist. Anschließend hat sie jeden Riss mithilfe lokaler Kunsthandwerker als heilende Geste sorgfältig von Hand zusammengenäht. Die sichtbaren Flickstellen sind Metaphern für die physischen und emotionalen Wunden, die in der realen Welt zurückbleiben. Diese Stoffstücke sind auf rechteckige Rahmen montiert und werden in Form einer Kartografie ausgestellt, die mit jeder Iteration eine andere Reihe von Orten darstellt. Die Künstlerin hat bisher knapp 400 kulturelle Stätten identifiziert, die seit 2010 in Syrien, Tunesien, Libyen, Irak, Ägypten, Jemen und zuletzt auf palästinensischem Boden durch Konflikte und Gewalt verschiedener Art zerstört wurden. Mit der derzeit in Venedig gezeigten Installation wurde ein Zeugnis der Stätten hinzugefügt, die während der anhaltenden Verwüstung des Gazastreifens dem Erdboden gleichgemacht wurden. Die Künstlerin, die selbst palästinensischer Herkunft ist, sagt zu diesem Thema: »In der Levante, in Gaza, findet diese Auslöschung der Geschichte statt, und ich erachte es als wichtig, meine traditionelle künstlerische Ausbildung und meine ästhetische Sprache zu nut-zen, um über Themen zu sprechen, die für die Region relevant sind.«(1) Ihre Arbeit beschwört die Möglichkeiten kollektiven Handelns und der Heilung herauf, indem sie an traditionelle Praktiken der Reparatur von Objekten erinnert, von denen die japanische Technik des Kint-sugi – bei der Keramikobjekte durch das Zusammenschweißen von Fragmenten mit Gold repariert werden – vielleicht die bekannteste ist.

Dana Awartanis künstlerische Praxis hat eine erklärtermaßen politische Dimension und wird zu einem Akt des zivilen Widerstands, der sich auch in der Wahl ökologisch und sozial nachhaltiger Materialien und Produktionstechniken niederschlägt, die die traditionellen Praktiken und das Wissen verschiedener indigener Gemeinschaften aufrechterhalten und fördern. Im Fall dieser Serie wurde der Seidenstoff mit natürlichen Farbstoffen auf der Basis von Kräutern und medizinischen Gewürzen gefärbt. Die heilenden Eigenschaften wurden genutzt, die den für den indischen Bundesstaat Kerala typischen ayurvedischen Textilfärbetechniken zugeschrieben werden, die die Künstlerin von Handwerkern der Region erlernt hat. Die Werke wurden in engem Dialog mit den Kunsthandwerkern entwickelt und hergestellt, sowohl für die Färbe- als auch für die Ausbesserungsphase – ein wichtiger Aspekt in ihren Werken, den sie wie folgt beschreibt: »Die Erinnerungen und Erfahrungen der Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, werden auch Teil des Werks.«(2)

Sorgfalt scheint die eigentliche Grundlage von Dana Awartanis künstlerischer Praxis zu sein: Fürsorge für die Umwelt und für die Menschen; Sorge um die eigene Geschichte, Kultur, das Wissen und die Traditionen. Ihre Arbeit ist eine sensible und poetische Reflexion über die Bedeutsamkeit, unser historisches und kulturelles Erbe zu bewahren und lebendig zu halten, um das Überleben unserer vielfältigen Identitäten und ihrer kostbaren Vielfalt zu sichern.

 

  1. Rebecca Anne Proctor, »Jeddah-born artist Dana Awartani on making contemporary work that honors the past«, in: Arab News, 29.03.2024, verfügbar unter URL: https://arab.news/cyjdx (eigene Übersetzung).
  2. Rebecca Anne Proctor, »Jeddah-born artist Dana Awartani on making contemporary work that honors the past«, in: Arab News, 29.03.2024, verfügbar unter URL: https://arab.news/cyjdx (eigene Übersetzung).

 

Autorin
LAURA GIUDICI ist Kunsthistorikerin, Autorin und Kuratorin. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die Darstellung von Körpern und Identitäten aus einer transdisziplinären Perspektive sowie auf die Beziehung zwischen zeitgenössischer Kunst, Ökologie und Nachhaltigkeit. Sie ist im Studio Mirko Baselgia für Dokumentation, Ausstellungen und Kommunikation zuständig und arbeitet mit dem Schweizer Verein Vert le Futur zusammen, der sich für einen nachhaltigen Kulturbereich einsetzt. Im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil ko-kuratierte sie die Ausstellung »Mirko Baselgia. )in(out) till sundown« und koordinierte den dazugehörigen Katalog (Scheidegger & Spiess, 2021). Seit 2013 schreibt sie für die Schweizer Zeitschrift Kunstbulletin.