Ein Gespräch mit Markus Krottendorfer

 

»Photopsia« ist ein Begriff, der sich um Wahrnehmungen dreht, die halluzinato­rischen Charakter haben. Dieser Terminus wird zum Titel der Einzelausstellung von Markus Krottendorfer, die vom 16. Juni bis 31. Oktober 2024 im LUMEN Museum of Mountain Photography am Kronplatz in Südtirol gezeigt wird. Der Künstler verknüpft darin drei unterschiedliche Projekte über Fiktionen: »Moun­tains of Kong« – ein Gebirge in Afrika, die »Kong-Berge«, die bis ins frühe 20. Jahrhundert in Landkarten eingezeichnet waren, die es aber niemals gegeben hat und die eine fiktionale koloniale Wissens­produk­tion über Afrika belegen; »Point of View« – die »Chinesischen Kabinette« der Hofburg in Brixen und des Klosters Neustift, die von einer romantischen Sicht auf einen imaginären »Orient« zeugen, aber auch von einer Macht der Weltdarstellung; »Phantom of the Poles« – 1906 publizierte William Reed ein gleichnamiges Buch, in dem er behauptet, im Inneren der Erde befände sich eine andere Welt und vielleicht auch unbekannte Völker; eine frühe Form von »alternativer Wahrheit«? Alle drei Projekte erlauben es, über die Rolle von Fotografie zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Wahrheit und Irrtum in der Gegenwart zu reflektieren. Während der Vorbereitung auf die Ausstellung treffen wir Markus Krottendorfer zu einem Interview, um mehr über seine Arbeit als bildender Künstler in Erfahrung zu bringen. Er bedient sich des Werkzeugs der analogen Fotografie.

stayinart: Welches Thema behandelt ihr jüngstes Projekt »Point of View«, das sich mit den Chinesischen Kabinetten in der Hofburg in Brixen und im Kloster Neustift befasst?

MARKUS KROTTENDORFER:
Es geht bei dieser Serie in erster Linie um die Vorstellung von der Ferne. In jener Zeit, Ende des 18. Jahrhunderts, als diese Kabinette entstanden sind, waren die Möglichkeiten, nach China oder gar nach Japan zu reisen, äußerst begrenzt, eigentlich so gut wie gar nicht existent. Dies führte zur Sehnsucht, sich die Ferne ins Zimmer zu holen. Daraus sind Bilder entstanden, die nicht der Realität entsprachen, sondern lediglich Abzüge des Berichts vom Bericht, vom Bericht sind. Man setzte so die unterschiedlichen Vorstellungen von Weltbildern um, die noch dazu auf einer teilweisen fiktionalen Basis beruhten.

Eine derartige Fiktion des britischen Afrikareisenden Mungo Park (1771–1806) ließ Sie zu einer abenteuerlichen Reise zu einem nicht existenten Gebirge in Afrika aufbrechen. Wie kam es dazu und was ist daraus entstanden?

MARKUS KROTTENDORFER:
Das Projekt »Mountains of Kong« ist für den Steirischen Herbst über die Camera Austria entstanden. Ich durfte nach Afrika reisen. In der National Library in London bin ich beim Ausfas­sen kolonialer Landkarten auf diese mysteriöse Geschichte gestoßen. Das Gebirgsmassiv der Kong-Berge wurde vom britischen Geografen James Rennell aufgrund geografischer Daten von Mungo Park auf der Karte ein­gezeichnet. Der Flussverlauf vom Niger führt zuerst weit ins Landesinnere und dann wieder zurück ins Meer. Also schien es dem Geografen schlüssig, dass dort auch ein Gebirge ist. Park glaubte, dieses Gebirge in der Ferne gesehen zu haben. Die Kong-Berge waren tatsächlich über 100 Jahre in jeder Karte existent; auch dann noch, als man schon wusste, dass es diese Berge nicht gibt. Sie haben sich eingeschrieben, in diesem Fall über die Kartografie. Meine Idee war es, eine Reise zu machen und dieses Gebirge zu suchen und zu fotografieren und zwar mit Farbfiltern, um diese fantas­tische psychedelische Reise zu überzeichnen und die Diskrepanz zwischen der realen Welt und unserer Wahrnehmung zu visualisieren. Ich wollte die Gemütsverfassung dieser fiebergeschwängerten Abenteurer einfangen, die den Niger entlang reisen und in der Ferne ein Gebirge erspähen wollen. Man weiß bei Expeditionsberichten nie, was an der Erzählung wahr ist und was nicht. Es ging um Bodenschätze, Gold und darum, klare Vorstellungen zu übermitteln, was es in all diesen fernen Ländern zu erbeuten gibt. Inso­fern führten oft Teilwahrheiten zu einer Vorstellung und koloniale Ideen zu einem Bild des gefährlichen Afrikas.

Sie sind als bildender Künstler also weit von der fotografischen Dokumen­tation entfernt?

MARKUS KROTTENDORFER:
Lassen Sie mich das am besten so er­klären: Ich sehe mich als bildender Künstler, der mit den Mitteln der doku­mentarischen Fotografie arbeitet. Ich fahre nämlich tatsächlich auf Basis einer fundierten Recherche irgendwohin und mache dort Fotos. Ich lege dann aber meine eigene Fantasie über die Bilder, wobei man immer darunter das tatsächliche Bild noch erkennen soll. Die abstrahierten Bilder entstehen oft schon in der Kamera und werden in meinem Labor von Hand vergrößert und weiter entwickelt. Formal lasse ich mich hier oft von der Malerei inspirieren.

Seit wann arbeiten Sie mit diesen Methoden? Wie hat sich das entwickelt?

MARKUS KROTTENDORFER:
Ein Schlüsselerlebnis waren rückblickend sicherlich die Chinareisen 2002 und 2004 zu der Fotoserie »Das Drei Schluchten Projekt«. Ich habe viel recherchiert über die Geschichte der Region und über diese Schluchten am Yangtsekiang, die kulturelle Wiege Chinas, die aufgrund der Konstruktion des größten Staudamms der Welt zu verschwinden drohte. Ich bin mit den Fotos zurück­gekommen, habe sie in meinem Labor vergrößert und war sehr zufrieden mit den Resultaten; gleichzeitig aber unglücklich. Ich war der Meinung, dass ich ein Bild nachhause gebracht habe, welches exakt dem Stereotyp der Vorstellung einer klassisch dokumentarischen Arbeit entspricht. Diese Erkenntnis hat mich gestört, weil ich mich selbst gefragt habe, wo die künstlerische Herangehensweise bleibt. Das war ein Wendepunkt und ich habe begonnen, zu überzeichnen.

Ihre Serien haben einen fundierten Background. Wie baut sich dieser auf?

MARKUS KROTTENDORFER:
Ich gehe in Archive und Bibliotheken, spreche mit Historikerinnen, Wis­senschaftlerinnen und Archivarinnen. Wenn ich auf Geschichten stoße, recherchiere ich intensiv. Vieles bricht weg – also gut 90 % –, bis sich dann das herauskristallisiert, was auch umgesetzt wird. Mein Haupt­interesse liegt auf Geschichten, die in der Wissenschaft als fundiert gelten, dann aber widerlegt werden, wie »Phantom of the Poles«, also, dass die Erde innen hohl ist. Das gleichnamige Buch beschreibt wie man an den Polkappen in das Innere der Erde gelangt. Es versucht, zu belegen, warum die Erde hohl ist. In dieser Serie sind Fotos von Eis, von Löchern und von Höhlen entstanden. Die Bilder sind wie eine Suche nach diesem Erdeingang und vielfach mit Mehrfachbelichtung, um Farbverschiebungen zu erzeugen, die Wahrnehmungsverschiebun­gen andeuten.

Auch hier geht es wieder um die Sehnsüchte der Ferne?

MARKUS KROTTENDORFER:
Nicht nur, son­dern auch darum, dass die Vorstellung von frem­den Welten immer damit verknüpft ist, diese Län­der auszubeuten. Das reicht bis in den Weltraum. Es geht immer um Expansion und nie um reines Erforschen. Es geht darum, der Erste zu sein und das Entdeckte, das Fremde, zu vereinnahmen. Die Idee einer existierenden zweiten Welt unter uns ist in dieser Hinsicht erst recht spannend. Deshalb sind auch auf den Bildern visuell viele Parallelen entstanden.

Die Theorie der inneren Erde ist demnach »Fake News«?

MARKUS KROTTENDORFER:
Heute sagen wir Fake News, aber allein das Aussprechen führt schon zu einem Mythos, der sich nicht mehr lö­schen lässt. Die Information hat sich in die kollek­tive Imagination eingeschrieben. Und Geschich­ten, die etwas ausgeschmückt sind, will man auch gerne hören. Die Lüge bekommt da schon ihren Reiz und Bedeutung, um auch wahre Inhalte transportieren zu können. In der Kunst kann man da sehr ungeniert sein auch wenn man mit erns­ten Themen arbeitet. Das ist das Schöne in der künstlerischen Produktion, weil sich Authentizität anders bilden kann wie in vielen Berufen, wo die Strategie der Übertreibung Schaden anrichtet.

Woher kommt Ihre Hingabe, Fiktion und Realität laufend auf den Prüfstand zu stellen? Hatten Sie diese Vorliebe schon immer – auch als Kind?

MARKUS KROTTENDORFER:
Mein Vater war Kartograf, spezialisiert auf Gebirgskartografie. Als Kind und als Jugendlicher war ich bei Begehun­gen dabei, weshalb ich noch die Gletscher aus den frühen 1990ern kenne. Diese Jugenderfahrung war sicher prägend. Mein Vater hat experimentel­le Karten für die Universitäten gezeichnet. Dafür lagen ihm Berichte von Expeditionen nach Nepal, China und aus anderen fernen Ländern vor. Er selbst war nie dort, sondern arbeitete mit Fotos, Satellitenbildern und kolonialen Karten. Eine Kar­te wird immer auf Basis von dem gezeichnet, was bereits davor gezeichnet wurde, also beispiels­weise, wenn sich Gletscher verändern oder neue Straßen und Wege dazukommen. Wir haben oft darüber diskutiert, wie eine Landkarte farblich dargestellt wird. Diese Gespräche hatte ich auch bei »Mountains of Kong« immer im Hinterkopf: Wie lege ich Farben in Höhenabstufungen um? Bei der Arbeit an »Phantom of the Poles« habe ich noch mehr versucht die Prozesse in der Kar­tografie einfließen zu lassen. Einige Fotos in der Serie sind Fotogramme. Es sind Globen, die ich auf das Fotopapier gelegt und belichtet habe. Die Idee war, durchzuleuchten, um das Innere der Welt zu sehen. Tatsächlich arbeitet die Kartografie genau so: Man stellt sich eine Lichtquelle in der Mitte der Erde vor, die auf das Blatt Papier projiziert. Dort, wo sie aufliegt, ist der Maßstab 1:1. Je weiter weg man von diesem Punkt kommt, umso verzerrter wird es. Das ist dieser problematische Prozess der Projektion, wie ich 3D auf 2D bringe. Es braucht mathematische Modelle, um die Erdkrümmung auf Landkarten bestmöglich zu reduzieren. All diese Überlegungen, wie man die Welt visuell darstellbar macht, haben mein Tun geprägt. Für mich war die Arbeit meines Vaters eine künstle­rische, denn er abstrahierte die Realität.

Vielen Dank für dieses aufschlussreiche Gespräch.

 

 

Ausstellungsansichten vom Lumen.

 

 

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