Laila Bachtiars künstlerisches Talent scheint ihr in die Wiege gelegt worden zu sein. Schon als Kind zeichnete sie voller Enthusiasmus. Ihr künstlerischer Tatendrang mutete grenzenlos an. Ihre Mutter, Alexandra Bachtiar, die unter anderem zweite Solocellistin des ORF Radio-Symphonieorchesters war, belegt diesen frühen Schaffensdrang: Während einer Probe bemalte ihre Tochter Laila den frisch verlegten Teppichboden zwischen den Stuhlreihen im großen Sendesaal des Funkhauses.

Laila Bachtiar wurde am 31. August 1971 in Wien in eine Musikerfamilie geboren. Ihre Mutter ist Cellistin, ihr Vater mit afghanischen Wurzeln studierte Gesang, Trompete und Klavier. Seit ihrer Kindheit zeigt Bachtiar autistische Verhaltensweisen. Sie besuchte von 1978 bis 1989 drei Sonderschulen, in denen auch ihre gestalterische Begabung erkannt wurde. Ab 1989 lebte sie in unterschiedlichen Wohngemeinschaften, bis sie 1994 wieder zu ihrer Mutter zog. Ihr künstlerisches Talent wurde in dieser Zeit von dem Künstler Ernst Fuchs, dem Mitbegründer der Wiener Schule des Phantastischen Realismus, sowie von der Ateliergemeinschaft Die Schlumper in Hamburg erkannt. Ab 1990 besuchte sie das Haus der Künstler in Gugging, wo sie als erste Artist in Residence in ihrer Tätigkeit als Künstlerin umfassend unterstützt wurde. Seit 2003 arbeitet sie im benachbarten atelier gugging des Hauses der Künstler an ihren oftmals zeitintensiven Werken. Das Haus der Künstler und das atelier gugging gehören zum art brut center gugging, in dem auch die galerie gugging und das museum gugging eingebunden sind. Der Beginn dieser inzwischen weltweit bekannten Heimat der Gugginger Künstler:innen liegt in den 1960er-Jahren, als der Psychiater Leo Navratil im NÖ Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg beginnt, das künstlerische Talent einiger seiner Patienten zu fördern und es in Form von Publikationen und Ausstellungen der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Bereits 1969 rechnete der französische Künstler Jean Dubuffet die Gruppe der Gugginger Künstler:innen der Art Brut zu. Dubuffet stellte nach dem Zweiten Weltkrieg den allgemeinen Kunstbegriff grundsätzlich infrage und entwickelte das Konzept der Art Brut. Darunter verstand er, wie er es selbst formulierte, Werke von Personen, die unberührt von der kulturellen Kunst geblieben sind, bei denen also – anders als bei intellektuellen Künstlern – Anpassung und Nachahmung kaum eine oder gar keine Rolle spielen. Die Autoren dieser Kunst beziehen für Dubuffet also alles – Themen, Auswahl der verwendeten Materialien, Mittel der Umsetzung, Rhythmik, zeichnerische Handschrift usw. – aus ihrem eigenen Inneren und nicht aus den Klischees der klassischen Kunst oder der jeweils aktuellen Kunstströmung.

Die Zeichnung als unmittelbarstes und spontanstes Mittel des bildnerischen Gestaltens ist jenes Medium, in dem Laila Bachtiar ihren künstlerischen Ausdruck entfaltet. Vor allem mit Bleistift und Farbstiften finden ihre Motive den Weg auf das Blatt Papier. Bachtiar beweist als Vertreterin der aktiven Gugginger Künstler:innen, welche Kraft und welchen Facettenreichtum eine mit Bleistift gezogene Linie aufweisen kann. Ihr künstlerisches Schaffen umspannt zwei zeichnerische Welten – eine farbige Welt und eine schwarz-graue Welt, die jedoch eng miteinander verbunden sind und denselben Ursprung haben: ein Gerüst aus Linien. Diese wiederum mit Bleistift gezogenen Linien schaffen Felder oder vielmehr Bausteine, aus denen sich ein Motiv zusammensetzt und durch die sich wiederum weitere Striche ziehen. Die Linien selbst sind nicht einfach nur Linien; diese hauchen dem Gezeichneten vielmehr Lebendigkeit ein und erinnern an die Aufzeichnung eines schwachen Herzschlages oder an Notenblätter – vielleicht ein Verweis auf den musikalischen Hintergrund ihrer Familie. Dieses von ihr geschaffene Grundgerüst bleibt aber nur selten für sich allein stehen. Es bildet die Basis für Bachtiars Kompositionen, die ab 1990 größtenteils einen farbigen Charakter aufweisen und ab 2003 vermehrt mit Bleistift und schwarzem Farbstift ausgeführt werden. Im Frühwerk – wie bei der Zeichnung Elefant aus dem Jahr 1992 – sind diese Bleistiftlinien des Grundgerüsts noch sehr klar zu erkennen.

 

Laila Bachtiar, Elefant, 1992, Bleistift, Farbstifte, 14,8 x 20,9 cm, Sammlung Hannah Rieger, Foto: © Maurizio Maier, Werk: Courtesy galerie gugging

Die darüberliegenden Felder sind jeweils in unterschiedlichen, aber noch durchscheinenden Farben ausgezeichnet. Die Linien der ausschraffierten Flächen durchbrechen immer wieder die Umrisse, was bei späteren Werken seltener der Fall ist. Ab 2001 werden die Farben viel intensiver, fast deckend. Es entstehen vermehrt Arbeiten, die den gesamten Bildraum füllen. Bachtiars Zeichnungen ab 2003, die oftmals mit Bleistift und auch mit schwarzem Farbstift entstehen, schaffen Farbnuancen von Schwarz bis Hellgrau und erzeugen ein dynamisches Spannungsfeld. Die zuvor noch erkennbaren Bleistiftlinien, die das Grundgerüst ihrer Zeichnungen bilden, werden teilweise so überarbeitet, dass sie ganz zu verschwinden scheinen. Derartige Kompositionen zählen zu den ausdrucksstärksten Werken in Bachtiars künstlerischem Schaffen.

 

Laila Bachtiar, Delfin, 2014, Bleistift, Farbstifte, 29,2 x 49,9 cm, Privatsammlung, Foto/Werk: Courtesy galerie gugging

Die Künstlerin signiert ihre Werke mit ihrem Vornamen in Großbuchstaben und fügt noch Zahlen hinzu, die allerdings keine Datierung darstellen. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Codierung Bachtiars, die nur ihr selbst bekannt ist und persönliche Bezugspunkte zum Werk schafft. Laila Bachtiars zeichnerische Welt besteht aus Themen, die sie persönlich beschäftigen und die für sie eine große Bedeutung haben. Seit Beginn ihrer zeichnerischen Arbeit hat die Künstlerin ein Hauptthema: die Tierwelt. Auf den klein- bis mittelformatigen Bildern finden sich sowohl heimische Tiere wie Katzen, Enten und Hasen als auch Exoten wie Delfine, Elefanten und Raubtiere. Zwei Pandabären, die dicht ineinander verschlungen sind, erinnern an Fabelwesen: Sie tragen etwas Fantastisches in sich, da ihre Gliedmaßen miteinander verschmolzen sind.

 

Laila Bachtiar Pandabär - (zwei), 2021, Bleistift, Farbstifte, 15,6 x 29,6 cm, Privatsammlung, Foto/Werk: Courtesy galerie gugging

Auf einem anderen Bild verlängert die Künstlerin den Körper eines Zebras ins schiere Unendliche und ein farbenprächtiges, überlebensgroßes Krokodil trägt »Laila« auf seinem Rücken. Bei letzterem Bild stellt sich die Künstlerin selbst auf dem Krokodil sitzend dar. An die Tierdarstellungen reihen sich auch Abbildungen von Menschen wie Porträts von Familienmitgliedern, zum Beispiel ihre Mutti mit Cello sowie ihr Vater.

 

Laila Bachtiar, Mutti mit Cello, 2016, Bleistift, Farbstifte, 21,6 x 30,1 cm, Privatsammlung, Foto/Werk: Courtesy galerie gugging

 

Laila Bachtiar, Krokodil Laila auf, 2001, Bleistift, Farbstifte, 70 x 100 cm, Sammlung Hannah Rieger, Foto: © Maurizio Maier, Werk: Courtesy galerie gugging

Des Weiteren finden sich Gegenstände wie ein Klavier – sicherlich ein Verweis auf ihren klavierspielenden Vater. Bachtiar arbeitet aus dem Gedächtnis. Selten bedient sie sich zu Beginn der Arbeit an einem Werk einer Vorlage. Erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennen die Betrachtenden bestimmte Details, die beim Erschließen des Werkes helfen.

Wie bei der Zeichnung Blume aus dem Jahr 2005, in der sich bei genauer Betrachtung im oberen Bilddrittel ein Vogel zeigt, der sich auf der Blume niedergelassen hat. Ähnlich ist auch die Arbeit Delfin aus dem Jahr 2014. Diese Zeichnung vereint ihre beiden »Welten«: die »farbige« Welt mit den verschiedensten Farbstiften und die »schwarz-graue« Welt.

 

Laila Bachtiar, Blume, 2005, Bleistift, Farbstifte, 29,7 x 20,9 cm, Sammlung Bettina Bogner, Foto/Werk: Courtesy galerie gugging

Die untere Körperhälfte des Delfins ist mit Bleistift und schwarzem Farbstift gestaltet, der obere Teil des Tieres scheint in dem blau-grünen Meereswasser fast zu verschwinden. Links oben kann das Auge erkannt werden. Ein Stilelement, das die Künstlerin bei vielen ihrer Tiere erkennbar darstellt. Bei den Zeichnungen, die nur mit Bleistift und schwarzem Farbstift ausgeführt sind, verschwinden diese Anhaltspunkte oftmals. Die Linien bilden nach wie vor das Gerüst ihrer Motive, allerdings arbeitet sie so dicht, dass das Dargestellte oft nur schwer erkannt werden kann. Bei dem Bild Wald ist zwar noch der ein oder andere Wolf oder Baum zu sehen, doch manche von ihnen sind sehr schwer auszumachen; so auch der Mensch, der sich am rechten Bildrand befindet. Diese 50,9 x 73 cm große Arbeit zählt in Laila Bachtiars OEuvre zu den Werken mit dem größten Format. Oftmals über Monate hinweg arbeitet sie an einer solchen für ihre Verhältnisse großformatigen Zeichnung. Ganz nah nebeneinander setzt sie dabei ihre Striche; oftmals so nah, dass sie auch übereinander zu liegen kommen. Als Folge entsteht ein Werk von einer enormen zeichnerischen Dichte. Dabei verliert sie nicht den Überblick über das Gezeichnete – sie behält die Komposition immer im Auge.

Laila Bachtiar ist die einzige Gugginger Künstlerin mit einem umfangreichen künstlerischen OEuvre. Ähnlich wie ihre Mutter, die zu jenen Instrumentalistinnen zählt, die Ende der 1960er-Jahre in eine Männerdomäne eingebrochen sind, übernimmt auch Laila Bachtiar in »Gugging« eine Vorreiterrolle. Bis zu ihrer Tätigkeit in »Gugging« war dieses fast rein männlich dominiert, da Leo Navratil – Entdecker und Förderer der Gugginger Künstler:innen, der bis Mitte der 1980er-Jahre in Gugging tätig war – eine Männerstation leitete und sich dadurch fast ausschließlich dem künstlerischen Talent von Männern widmete. Obwohl Laila Bachtiar schon seit 1990 künstlerisch in »Gugging« tätig ist, erfährt sie jedoch erst seit ungefähr 2010 eine vermehrte öffentliche Wahrnehmung als Künstlerin. Wesentlich dazu beigetragen haben sowohl die Ausstellung gehirngefühl.! kunst aus gugging von 1970 bis zur gegenwart im museum gugging als auch die entsprechende Publikation und im Besonderen Laila Bachtiars Beteiligung an der international viel beachteten Ausstellung Flying High. Künstlerinnen der Art Brut im Jahr 2019 im Bank Austria Kunstforum Wien, die auch zum ersten Mal umfassend die weiblichen Positionen der Art Brut in den Fokus rückte. Laila Bachtiars Kunst ist nun der ihrer Gugginger Künstlerkollegen wie Johann Hauser und Rudolf Horacek gleichgestellt, was auch die Sonderausstellung abstrakt.!? zwischen figuration und abstraktion (19. Oktober 2023 bis 17. März 2024) im museum gugging belegt. Diese Ausstellung legt zum ersten Mal das Augenmerk auf den abstrakten Aspekt der Gugginger Kunst und geht dem Wechselspiel zwischen figurativen und abstrakten Elementen nach. Laila Bachtiars Positionen stehen dabei im Zentrum der Präsentation.

 

Laila Bachtiar, Sobeir Bachtiar, 2016, Bleistift, Farbstifte, 21 x 14,8 cm pencil, colored pencils Privatsammlung, Foto/Werk: Courtesy galerie gugging