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Samaneh Atef ist 1989 in der Hafenstadt Bandar Abbas im Süden Irans geboren. Sie ist künstlerische Autodidaktin und hat sich früh dem Zeichnen zugewendet. Doch erst mit dem Zuspruch eines befreundeten Malers widmet sie sich seit 2014 intensiv der Kunst. Er lud sie ein, zu ihm ins Atelier zu kommen, machte sie auf die Outsider Art aufmerksam und bestärkte sie, ihrem eigenen Weg zu folgen. In Iran finden wir sehr selten einen inneren Austausch zwischen Werken von Künstlern und künstlerischen Strömungen«.(3) Samaneh Atef verbreitete ihre Werke über Social-Media-Kanäle und fand schnell Aufmerksamkeit in der internationalen Outsider-Art-Szene. Zum Meeting der European Outsider Art Association 2018 in Chichester war ein Gespräch mit ihr unter dem Titel What does it mean to be an Outsider Artist?« geplant, das am Visum scheiterte. Schließlich begegnete ich ihr erstmals persönlich im Herbst 2019 an der Outsider Art Fair in Paris, wo sie von der Galerie Polysémie, Marseille, vertreten wurde. Die Künstlerin sprach von ihren Schwierigkeiten in Iran und erzählte, dass sie das Land verlassen muss. 2020 erfolgte ihre Ausreise mithilfe der Organisation Artists at Risk Connection (ARC), ein Projekt von PEN America. ARC »schützt das Recht auf künstlerische Meinungsfreiheit und sorgt dafür, dass Künstler und Kulturschaffende überall ohne Angst leben und arbeiten können«.(4) Mitten im Corona-Lock-down traf Samaneh Atef in Lyon ein; allein, ohne französische Sprachkenntnisse, in Isolation.
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Samaneh Atef in der Ausstellung Outsider Art unter dem Halbmond, open art museum, St. Gallen, 2023, © Andrea Stalder/ St. Galler Tagblatt
WHAT DOES IT MEAN TO BE AN OUTSIDER ARTIST?
Weltenwandler(1) werden sie genannt, Grenzgänger, World Transformer. Outsider Artists wird vielfach die Dynamik einer Transferbewegung zugesprochen, verbunden mit einer Prozesshaftigkeit des Schaffens. Ihre Kunst soll Zugang zu inneren Welten verschaffen, Ausnahmeerlebnisse visualisieren, andere Ebenen des Seins vermitteln – sie erfüllen eine Transmitterfunktion. Katrin Nahidi hingegen mahnt, sensibel mit dem Hintergrund und Werdegang von Künstler:innen umzugehen; so haben »Kunstschaffende in Iran ihre eigenen Kontexte, die stark lokal geprägt sind«, und »passen nicht wirklich in die europäische Kunstgeschichte«.(2)
BETWEEN THE WORLDS
Das »Outside« beherrscht ihr Leben. Ihre Kunst lässt sich ebenso wenig einer Kategorie zuordnen, wie sie sich persönlich einengen lässt. Schon vor ihrer Ausreise hat Samaneh Atef in Iran in innerer Emigration gelebt und im Werk ihre Bedrängnis thematisiert. In Lyon lebt sie im Exil. Exil ist eine Zäsur, die alle Lebensbereiche durchdringt und alle Ebenen des Seins betrifft: wirtschaftlich, politisch, kulturell, sozial. Exil ist die Zerstörung der Lebenskontinuität; das persönliche Selbstverständnis und alle Lebensstrukturen zerbrechen radikal. Der Mensch wird aus seinem Leben, seinem Gefüge katapultiert. Mit der Zäsur gehen wirtschaftlicher Notstand, Ohnmacht und die Erfahrung der Ausgrenzung einher. Samaneh Atef begibt sich in den freien Fall. Bei ihr trifft diese totale Entwurzelung auf die Erfahrung ohnehin fehlender Verwurzelung. Eine freie individuelle Entfaltung ist unter Repression nicht möglich, folglich erlebte sie schon in Iran Ohnmacht und Ausgrenzung. Aufgewachsen in einer nicht streng gläubigen, aber traditionellen Familie, erlebte sie zwar wirtschaftliche Sicherheit und hatte die Möglichkeit, zu studieren und als ausgebildete Informatikerin finanziell unabhängig zu sein. Dennoch, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, das konnte sie nicht. Sie geriet in eine Depression. Jeder Akt der Selbstbehauptung ist ein Tabubruch. In einem Interview, das wir 2022 führten, sagte Samaneh Atef, dass sie ihre Kunst nicht politisch versteht, sondern vielmehr feministisch. Once I understood everything about who I am and how I grew up, I started to break all taboos, first in my parents' house.«(5)
IT'S NOT ONLY MAKING ART, IT'S MY IDENTITY. I'M AN ARTIST
»Art was the only thing, I wanted in my life«, so Samaneh Atef. Schon als Kind träumte sie davon, doch alle künstlerischen Bereiche, in denen man in der Öffentlichkeit sichtbar ist, gelten nach der Scharīa als harām und sind für Frauen verboten. Ihr Wunsch, eine Kunstschule zu besuchen, wurde nicht gestattet. Sie zeichnete dennoch und nach dem Zuspruch des Malerfreundes stellte sie ihre Werke auf Instagram aus. Damit überschreitet sie gleich zwei Tabus: Sie präsentiert sich öffentlich als Künstlerin und darüber hinaus thematisiert sie Weiblichkeit in ihrem Werk. Sie zeigt die Auseinandersetzung mit dem Frausein und dem sexuell konnotierten weiblichen Körper. Die Dringlichkeit ihrer Arbeit ist in jeder Zeichnung spürbar. Sie ist Selbstreflexion, Not, Kampf, Anklage; sie ist Bewältigung, Befreiung und Selbstbehauptung. Sie ist Erfahrung des Schöpferischen und der Selbstgestaltung. »In creation you are created« formuliert es C. G. Jung – Kunst als existenzielle Lebensform. Für Samaneh Atef bedeutet dies alles: »Mein Sein in der Welt beginnt mit meinen Zeichnungen.«(6)
Exilium ist die Verbannung in die Fremde. Fremdsein heißt »anders« sein. In ihrem Leben in Iran, im Abweichen von gesetzten Normen, ist Samaneh Atef immer in der Fremde wie auch im Exil in Frankreich. Im Exilium gerät Kunst zur Überlebensstrategie und Lebensnotwendigkeit; sie gilt der Identitätssicherung. Sind ihre Zeichnungen auch keine konkreten Selbstporträts, so lässt sich doch jede Arbeit als ein Selbstbild verstehen, in dem die Künstlerin ihr Ich zum Ausdruck bringt. Dieses im Exilium entstandene, autobiografisch geprägte Werk basiert auf dem traumatischen Bruch im Leben. Es ist das künstlerische Produkt dieser Zäsurerfahrung. Dem Identitätsverlust und der Desorientierung setzt das autobiografische Werk eine neue Lebensverortung entgegen. Im künstlerischen Schaffen entsteht die neue Identität als Künstlerin. Samaneh Atef hat damit eine Vorbildfunktion eingenommen. Heute, so sagt sie, sprechen Kinder in ihrer Familie davon, wie sie Künstlerin werden zu wollen.
MY WHOLE STORY STARTED WITH MY BODY!(7)
Im Zentrum ihrer Arbeit steht stets die Frau. Schablonenhaft ist sie Abbild des grundsätzlich Weiblichen und zugleich Selbstbild der Künstlerin. Der Körper ist die äußere Gestaltwerdung des Ichs, quasi das öffentliche Ich. Für künstlerische Prozesse der Selbstauseinandersetzung und des Seins bildet der Körper die Folie des Diskurses. Mehr noch, er wird zum Austragungsort sowohl eigener als auch fremdbestimmter Aktionen und wird dabei zum Kampfplatz der Selbstbestimmung und Unterdrückung. Im patriarchalen System ist der weibliche Körper immer ein Politikum, über den verhandelt wird – sei es hinsichtlich der Genderidentität, der sexuellen Orientierung, der Mutterschaft und deren Verweigerung oder im allgemeinen Verständnis von körperlicher Präsenz. Stets wird der weibliche Körper sexuell gedeutet. Die Verdinglichung von »Geschlecht« gerät zur Machtbeziehung.(8) In ihren Zeichnungen entblößt Samaneh Atef den Körper bis tief in sein Innerstes, zeigt ihn durchlässig. Er gibt alles preis, sowohl in totaler Verfügbarkeit als auch in absoluter Verwundbarkeit: Genitalien, Föten in Frauenleibern, Körper zerfließen, reißen auf, mutieren, formieren sich zu neuen Gebilden, verlieren sich in der Abstraktion. Es strömt aus dem Körper heraus, mal dringt etwas in ihn hinein, mal wird von allen Seiten auf die Frau zugegriffen. Trotz surrealer Verfremdung und symbolischer Überhöhung ist das Moment der Gewalt allgegenwärtig. Wir kennen die schonungslose kategorische Auslieferung des Ichs an die Öffentlichkeit bei Marina Abramović, die sich in ihren provokativen Performances dem Publikum und dessen Reaktionen und ihren Körper sogar Angriffen aussetzt. Dies führt zur Verunsicherung des Gegenübers bis hin zu Ablehnung und Aggression. Die Darbietung absoluter Verletzbarkeit stürzt uns in Ambivalenz: Wir werden zu Zeugen, gar Voyeuren des potenziellen Zugriffs, während die Qual auf uns übergreift.
Noch in Iran entsteht die Serie kleinerer Bleistiftzeichnungen Women in Prison. Die Figur ist flächig auf das Papier gesetzt, mit einer übergroßen Vagina in der Bildmitte, die zugenäht ist. Nur eine kleine Öffnung ist geblieben, auf die ein überdimensionaler Penis hinstößt, der in einer Kopfform endet, von dem die Haare lang herunterhängen – kehrt man das Bild um, entsteht eine neue Figur. Wieder zurück, werden die Arme von riesigen Fischen verschluckt, weitere Arme hängen verstümmelt herab und bilden eine Art Schirm oder Flügel. Im großen Mund wiederholt sich die Form der verschlossenen Vagina; ihm entwachsen Äste, die sich breit verzweigen. Geflügelte Wesen und das Motiv des Baumes, aus dem schließlich Blüten der Hoffnung sprießen, sind Elemente, die sich im Werk Samaneh Atefs wiederholen. Pflanzliche Formen gehören zur persischen Kunst. In diesem Verwachsensein mit dem weiblichen Körper sei auf die Videoarbeit Tooba (2002) von Shirin Neshat (*1957 Iran, lebt in den USA und Deutschland) verwiesen, die an der documenta 11 gezeigt wurde. Ihre Auseinandersetzung mit dem iranischen Islam bezieht sich auf soziale, kulturelle und religiöse Kodierungen des weiblichen Körpers und die geschlechtsspezifische Aufteilung öffentlicher und privater Räume. In Tooba steht eine Frau im hohlen Stamm eines großen Baumes inmitten eines ummauerten Gartens – eine Anspielung auf den umfriedeten Paradiesgarten im Islam. Bedrohlich nähern sich Männer dem Garten. Und wenn sie in diesen eindringen, wird die Frau verschwunden sein. Der Tuba-Baum ist ein mythischer Baum, der gemäß der islamischen Hadith-Überlieferung im Paradies wächst. Samaneh Atefs persönlicher Paradiesbaum ist ein Pfirsichbaum, der zu Hause vor ihrem Fenster stand.
Ein zentrales Werk visualisiert den definitiven Lebensbruch im Exil: Es ist die erste Arbeit, die in Frankreich entstanden ist. Eine schwarzweiß gezeichnete Frauenfigur steht vor einem feuerroten, mit Aufschriften in Farsi versehenen Grund; ihr von einer Schlange gebildete Uterus ist blutrot. Erstarrte Tränenbahnen wuchern, bilden Zweige und wieder neue Triebe. Die Frau hält einen Gegenstand in der Hand, vielleicht eine Reisetasche. Hinter ihr zurückgelassen, hebt eine Gruppe von Menschen die Hand zum Abschied. Weiblichkeit, Geschlecht, das Leid der Frau nackt und unverblümt vorgeführt, fallen unter das Verbot der Sittenwächter – darum musste die Künstlerin ihr Heimatland verlassen. Hier findet eine direkte Begegnung mit Samaneh Atef statt, der angesichts des Bildes auch real die Tränen kommen. Augen sind ein weiteres bestimmendes Motiv ihrer Arbeiten. Groß und stilisiert bannen sie den Blick. Gesichter, Augen sind aber auch ornamenthaft in Figuren eingearbeitet. Die starke Betonung der vielzähligen Augen verweist auf den Volksglauben der Nazar-Amulette. Das blaue Auge soll den bösen Blick abwenden. Bei Samaneh Atef hat sich der tradierte Rettungsgedanke ins Gegenteil verkehrt: Die Augen selbst werden zur Bedrohung, zum verfolgenden bösen Blick, der sich gegen die Frau richtet.
Angelehnt an die detailreiche Ornamentik der islamischen Kunst, hat Samaneh Atef einen Zeichenstil entwickelt, der aus unendlichen, feinen, kleinteiligen Strichen einen Teppich »webt«, Figürlichkeit zu Flächen formt und zunehmend in die Abstraktion führt. Erst zufällig, dann aus Mangel an Zeichenpapier hat sie 2020 im Corona-Lockdown begonnen auf Landkarten zu zeichnen. Zeichnung und Bildträger durchdringen einander, die Linien der Karte bilden Adern und Nervenbahnen der Frau – Lebenslinien. Im Gespinst der zarten Zeichnung, die wie ein transparentes Netz auf dem Papier liegt, löst Samaneh Atef jene genannte Verdinglichung von Geschlecht und Materialität auf. In nunmehr feinstofflicher Existenz entzieht sich der weibliche Körper einer Aneignung. »Out of place«(9) switcht sie zwischen den Welten. Doch in ihrer Entwurzelung besetzt Samaneh Atef die Landkarten mit ihrer Darstellung der Frau und okkupiert die Welt.
- Titel der Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2010.
- Katrin Nahidi, Moderne und zeitgenössische Kunst in Iran. Julia Allerstorfer im Gespräch mit Hannah Jacobi und Katrin Nahidi, in: Monika Leisch-Kiesl / Franziska Heiß (Hg.), Was sagt die Kunst? Gegenwartskunst und Wissenschaft im Dialog, Bielefeld 2022, S. 301, 297.
- Majid Akhgar, What Influences Iranian Artists? The Case of Contemporary Art, https://mohit.art/what-influencesiranianartists/, zuletzt aufgerufen 18.07.2024.
- https://artistsatriskconnection.org/about-arc, zuletzt aufgerufen 18.07.2024.
- Samaneh Atef im Interview mit Monika Jagfeld, Lyon, 05.12.2022. Soweit nicht anders gekennzeichnet, sind alle Aussagen Samaneh Atefs diesem Interview entnommen.
- Zit. n. Klaus Mecherlein, Frau im Gefängnis, in: Samaneh Atef. 9th European award for painting and graphic art in the context of mental disability, Ausstellungskatalog München, Haus der Kunst, 2024, S. 31.
- Nach der gleichnamigen Zeichnung 2023.
-
Bettina Zehetner, Performativität von Krankheit und Geschlecht. Gender Trouble und feministische psychosoziale Beratung, Wien/Berlin 2012; ePrint: http://sammelpunkt.philo.at/id/eprint/3499/1/Performativitaet_Krankheit_
Geschlecht_Bettina_Zehetner.pdf, S. 16. Vgl. Judith Butler, Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995, S. 22. - Vgl. Samaneh Atef – Fuori Posto, Ausstellungskatalog Torino/Milano, Galleria Gliacrobati/Maroncelli 12, 2023.
Autorin
MONIKA JAGFELD Kunsthistorikerin. Seit 2008 Direktorin des open art museum, St. Gallen, Schweiz. 2006–2007 Co-Direktorin Museum Charlotte Zander, Bönnigheim. 1994–2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin/Kommunikation Sammlung Prinzhorn, Heidelberg. Kuratorin zahlreicher Ausstellungen und Autorin zu Outsider Art und Crossover-Projekten. Sie ist Jury- und Kuratoriumsmitglied des euward, im Beirat des Living Museum Wil/Schweiz und im Vorstand der European Outsider Art Association, war in der Jury INSITA Bratislava und des Prix Suisse d’Art Brut.